Gründungsreden

Gründungsrede von Siegfried Gronert

Vortrag zur Gründungsversammlung der Gesellschaft für Designgeschichte im Haus Am Horn, Weimar, 2. Februar 2008

Als Teilnehmer dieser Gründungsveranstaltung haben Sie an der Rezeption einen Button mit Ihrem Namen erhalten. Nun wäre es durchaus denkbar, dass die Form des Button an eine turbulente Gründungszeit im Jahre 1968 erinnern sollte und wir uns heute anlässlich des 40. Jahrestages der Gründung einer Gesellschaft für Designgeschichte versammelten. Tatsächlich stellt sich ja zu unserem Anlass der Gründung einer Gesellschaft für Designgeschichte sofort die Frage, warum die Designgeschichte in Deutschland bisher kein eigenes institutionalisiertes Forum außerhalb der Museen und Universitäten gefunden hat. Es gibt darauf keine einfache Antwort, aber vielleicht können die folgenden Überlegungen einige Hinweise zur Situation der Designgeschichte anbieten.

Es ist bekannt, dass die museale Aufbewahrung und Präsentation von gestalterisch ambitionierten Gegenständen des Alltags im Zuge der Kunstgewerbe-Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte. Damals wurden jene Museen gegründet, die noch heute das Bild der Designgeschichte vermitteln: das Victoria and Albert Museum, das Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg, das Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt am Main – um nur einige zu nennen. Gleichzeitig sollten sie der Förderung des Kunstgewerbes dienen, hatten also eine aktuelle wirtschaftliche Aufgabe zu erfüllen. Diese doppelte Aufgabe konnten die damaligen Gründer – wie Henry Cole in London oder Alfred Lichtwark und Justus Brinckmann in Hamburg – ausfüllen, weil sie ihre Gegenwart an einer idealisierten Vergangenheit und deren Aufarbeitung orientierten. Noch heute geben sich die ehemaligen Kunstgewerbe-Museen ihren Sinn in dieser doppelten Aufgabe – auch wenn das aktuelle Design heute weitgehend von Designzentren und Designmessen vermittelt wird.

Im Anschluss an die Gründungsphase kehrten die Geschichtsschreiber der modernen Bewegung den Bezug der Museumsgründer zur Vergangenheit gewissermaßen in das Gegenteil. Die Vergangenheit diente nicht mehr als Vorbild, vielmehr sollten Nützlichkeit und Schönheit der eigenen aktuellen Moderne durch die aus dem Trümmerhaufen der Vergangenheit hervorgeholten Ursprünge legitimiert werden. So Walter Dexel, der mit seiner „Formsammlung der Stadt Braunschweig“ die Einfachheit der Moderne mit Fundstücken aus der Vergangenheit verband und historisch begründete. So auch Sigfried Giedion, der in der alltäglichen „Herrschaft der Mechanisierung“ die reale, allerdings gestalterisch zu befriedende Legitimation der Moderne sah. In Deutschland beginnt mit der ersten umfassenden, nach 1945 geschriebenen Designgeschichte – „Industrial Design heute. Umwelt aus der Fabrik“ von Wilhelm Braun-Feldweg (1966) – eine reflektierte Sicht auf die Moderne. Hieran hätte eine reflektierte Designgeschichte anschließen können, für die etwas später mit der 1977 gegründeten Design History Society in England tatsächlich eine Institution entstand.

Auch der überzeugendste Vertreter der Geschichtsschreiber der Moderne, Nikolaus Pevsner, verkürzte in seinen Schriften zu den Anfängen des modernen Designs die Vergangenheit auf eine legitimierende Funktion für die Moderne. Mit seiner Argumentation in „Pioneers of the Modern Movement from William Morris to Walter Gropius“ vollbrachte Pevsner 1936 das Kunststück, den Maschinenstürmer William Morris mit Walter Gropius als prominentesten Verfechter der industriellen Formgestaltung in eine ungebrochene genealogische Abfolge zu stellen. Mit welcher Begründung? Doch wohl nicht mit dem Rückgriff auf die industrielle Produktion! Pevsner sah im utopischen Sozialismus von Künstlergemeinschaften wie dem Bauhaus eine Revitalisierung mittelalterlicher Gesamtkunstvorstellungen, die von Morris wieder aufgenommen worden waren. So konnte Pevsner eine Verbindungslinie zwischen seiner Gegenwart bis zurück ins Mittelalter aufzeigen: Walter Gropius und das Bauhaus – Henry van de Velde und der Deutsche Werkbund – William Morris, Augustus Welby Pugin, John Ruskin und die Pre-Raphaelites. Mit anderen Worten: ihre Legitimation findet Pevsners Moderne nicht in der Einfachheit des Gebrauchsgerätes von Dexel, nicht in der gestalterisch beherrschten Mechanisierung von Giedion, sondern in der sozialen Utopie einer Gemeinschaft, die mit ihren Idealen auf die Gesellschaft einwirken will.

Ich komme gleich noch einmal darauf zurück – möchte aber zunächst die Kunst- und Gestaltungshochschulen, die ja ebenfalls in der Kunstgewerbe-Bewegung entstanden, ins Spiel bringen. Dort stand selbstredend immer die gegenwärtige Gestaltung im Vordergrund. Die Geschichte spielte im Bauhaus keine tragende Rolle, nicht in den Werkkunstschulen, der Hochschule für Gestaltung in Ulm und in den nachfolgenden Fachhochschulen und Hochschulen für Gestaltung. Erst durch die enormen Umbrüche in der Hochschullandschaft der letzten Jahrzehnte sind Kunst- und Gestaltungshochschulen mit wissenschaftlichen Universitäten verbunden und damit engere Kooperationsmöglichkeiten zwischen Theorie, Gegenwart und Geschichte möglich geworden. Die Bergische Universität Wuppertal und die Bauhaus-Universität Weimar sind nur zwei Beispiele.

Die angedeuteten Umbrüche in der Hochschullandschaft finden ihre Parallele in der Postmoderne der 80er und 90er Jahre. Für die Architektur- und Designgeschichte bot die Postmoderne ähnlich wie in der Kunstgewerbe-Bewegung die Möglichkeit, in der Vergangenheit Elemente einer besseren Gegenwart zu finden: das Ornament, das Ritual, die sprechenden Formen. Der Blick in die Vergangenheit eröffnete damit der Moderne neue Perspektiven – oder: die Vergangenheit zeigte der Gegenwart ihren blinden Fleck. Mittlerweile zeigt dagegen die Gegenwart der aktualisierten Vergangenheit ihre blinden Flecken – man braucht sich dazu nur die aktuellen, von der italienischen Firma Alessi entwickelten Produktkulturen zu vergegenwärtigen, die den Haushalt in eine Puppenstube verwandeln.

Parallel reagierten in der Museumslandschaft – um nur ein Phänomen herauszugreifen – die Museumsnamen. Nach etwas mehr als 100 Jahren verwandelten sich die Kunstgewerbemuseen nach und nach in „Museen für Angewandte Kunst“: Wien machte 1986 den Anfang, es folgten Köln, Frankfurt und im letzten Jahr das Grassi Museum für Angewandte Kunst. Das ist zweifellos als Versuch zu sehen, in der Vergangenheit – tatsächlich noch vor der Kunstgewerbe-Bewegung – eine Bestimmung für die Gegenwart zu finden, die in dem Begriff des Kunstgewerbes sich nicht mehr widerspiegelt. Mag auch in dem Begriff der Angewandten Kunst eine Möglichkeit gesehen worden sein, ein gemeinsames Dach für die vorindustrielle wie die industrielle Gestaltung zu finden, dieses Dach wirkt heute so verspätet postmodern wie die niedlichen Figuren von Alessi.

So wichtig die Öffnung in die Zeit vor der Kunstgewerbe-Bewegung auch ist, eine Designgeschichte darf sich nicht darauf reduzieren lassen, der Gegenwart ein erweitertes Spielfeld der Geschichte auszubreiten. Daher ist erneut nach dem Sinn von Design zu fragen, wenn die Anbindung der Geschichte an die Gegenwart nicht verloren gehen oder beliebig werden soll.

Im englisch-amerikanischen Sprachraum wird eine Bedeutung des Wortes „design“ bevorzugt, die sich stärker auf die kulturtechnische Tätigkeit des Entwerfens bezieht. Sie kann sich dabei auch auf die italienische Disegno-Diskussion im 15. und 16. Jahrhundert berufen, die aus der Dualität von Idee und Ausführung ihre Legitimation des Entwerfens ableitete. Doch man sollte nicht übersehen, dass die Bedeutung des Designs als Entwurf heute nur teilweise orientierend wirken kann.

Aus ihrer Geschichte in Deutschland verweisen „Formgestaltung“ und – nach 1945 – „Design“ auf eine andere Legitimation, die auch Pevsner seiner Moderne zugrunde legte: Design als soziale Aktivität, mehr noch, als gesellschaftliche Mittlerposition zwischen Kunst und Alltag, zwischen Technik, Geld und Geist. Design bildet in dieser Sicht den Kitt, der – neben vielen anderen Faktoren – die Gesellschaft zusammenhalten kann. Das gilt für die vereinheitlichenden Gestaltungsvorschläge in den 1920er Jahren ebenso wie für die heutigen Differenzierungsmöglichkeiten durch Design.

Innerhalb dieser Ideengeschichte bedarf die Designgeschichte ebenso wie das Design einer vor allem sozialen Legitimation. Wie das Design zwischen Kunst und Alltag vermitteln kann, so die Designgeschichte zwischen der Kunstgeschichte und der Geschichte des Alltags.

Aus diesen Überlegungen lässt sich schließlich eine Vermutung ableiten, warum die Designgeschichte in Deutschland erst so spät ein eigenes Forum einfordert. Solange das Design in Deutschland in einer kontinuierlichen Genealogie von den Anfängen der Moderne bis hin zur Hochschule für Gestaltung in Ulm und dem Braun-Design aufgestellt war, konnte die Designgeschichte nur bestätigend formulieren, was jeder Designer prinzipiell auch wissen musste: die Regeln der Moderne. Erst als mit der Postmoderne diese Selbstverständlichkeit verloren ging, konnte die Vergangenheit als eine Geschichte bewusst werden, die man so oder so erzählen kann.

Damit wird die Designgeschichte unsicher, sie wird vielfältig und diskussionsfähig, sie überschreitet die Zeitgrenze der industriellen Revolution in die Vergangenheit, sie fragt nach Methoden und geisteswissenschaftlichen Theorien über die aktuelle Verwertbarkeit in der Praxis hinaus. Es beginnt die Zeit der Designgeschichte.

Gründungsrede von Gert Selle

Design – Randphänomen oder Zentralmassiv der Industriekultur?

Vortrag zur Gründungsveranstaltung der Gesellschaft für Designgeschichte in Weimar, 3. Februar 2008

Der Titel klingt etwas reißerisch. Nüchtern in der Sache geht es nur um ein Forschungsfeld und seine Erschließung. Beides hat es freilich in sich: Der Gegenstand ist komplex. Die Rekonstruktion designgeschichtlicher Fakten, Verknüpfungen und Hintergründe bedarf einer theoretischen Fundierung und differenzierten methodischen Instrumentierung, und zwar weit über das hinaus, was in der populären Literatur, in den Medien und teilweise auch im Museum getrieben wird. Designgeschichte ist ausgreifender und vielschichtiger, als es den Anschein hat.

Obwohl das Thema Design an Öffentlichkeit gewonnen hat, erweist es sich als alles andere denn analytisch durchdrungen. Auch in historisierender Perspektive gern als Oberflächenereignis inszeniert, wird Design in aller Regel nicht in seiner Tiefendimension, das heißt in seinen Verankerungen im historischen Raum der Industriekultur wahrgenommen. Selten wird realisiert, dass Design eine Art funktionale und ästhetische Ausstülpung systemischer Strukturen in die Gegenwart einer Gesellschaft ist. Also etwas, dessen Untergrund wie ein Mycel unsichtbar bleibt, aus dem die gestalteten Erzeugnisse wie Pilze spriessen.

Dieser Wurzelgrund und was aus ihm gewachsen ist und immer noch wächst, sollte Hauptgegenstand jener Wissenschaftsdisziplin sein, die man Designgeschichtsforschung nennt.

Aber zunächst sind da die sichtbaren Phänomene. Sie sind als das Gewachsene und Geformte zu beschreiben und zu klassifizieren: Was ist das Besondere und was das Allgemeine an ihnen? Eine Morphologie und eine Typologie, und wenn man aus Kunstgeschichtswissenschaft kommt, auch eine Ikonographie der Produkte sind unabdingbar. Zuvor müssten wir uns jedoch geeinigt haben, was wir überhaupt unter Design verstehen und rubrizieren wollen. Nur sichtbar gestaltete Objekte oder auch unsichtbar Geformtes und Formendes, also Entwürfe in einem erweiterten und keineswegs offen vor Augen liegenden Sinne?

Immerhin hat man sich daran gewöhnt, vom sichtbaren und vom unsichtbaren Design zu sprechen. Es hat einige Zeit gedauert, bis das designhistorische Denken in Deutschland auf Lucius Burckhardts These von 1981, Design sei unsichtbar, reagiert hat und eine Wende in der Herangehensweise an designgeschichtliches Material möglich erschien. Doch gibt es noch immer Vorbehalte gegen eine Erweiterung des Begriffs Design in die Dimension des Unsichtbaren. So hat der Herausgeber des Katalogs zur Münchner Werkbund-Jubiläums-Ausstellung mich belehrt, Burckhardt habe den Werkbund ruiniert, und was er mit dem unsichtbaren Design gemeint habe, sei unvermittelbar geblieben. Tatsache ist, dass damals ein Paradigmenwechsel angedeutet wurde, hinter den wir heute nicht mehr zurückfallen dürfen.

Burckhardts irritierendes Diktum,(1) von ihm selbst in seiner Tragweite vermutlich nur geahnt, hat, wie ich finde, die Designgeschichtswissenschaft in Deutschland für die Zukunft zu sich selbst befreit. Seither ist sie nur als eine breit angelegte Kulturwissenschaft denkbar, die nicht bloß registriert, was von den Produktkulturen sichtbar ist bzw. vom Sichtbaren übriggeblieben ist, sondern deren Auftrag letztlich darin besteht, auch das Unsichtbare erkennbar, das Ungreifbare begreiflich und das Unverstandene analytisch zugänglich zu machen.

Notwendigerweise entdeckt man dabei die unter den schönen Oberflächen sich erstreckende Landschaft gesellschaftlich-historischer Bedingungen und Motivationen von Design – eben jenes Mycel oder Massiv, von dem ich eben sprach. Es taucht hinter den wahrnehmbaren Formen auf und will in seinen Dimensionen und Bezügen ausgeleuchtet werden. Es gilt also, das Geflecht zu rekonstruieren, durch das einst sichtbar und greifbar Geformtes seine Funktionen und Bedeutungen zugewiesen bekommen hat – eben sein unsichtbares Design. Aber was ist dieses Unsichtbare?

Ein aktuelles Beispiel: Am iPod von Apple gibt es wenig sichtbares und greifbares Design, aber sehr viel unsichtbares.

Michael Bull, Kommunikationswissenschaftler an der Sussex University, hat herausgefunden, dass der Massengebrauch des iPod zwischen Formen der Kollektivierung und Formen der Individualisierung eines oberflächlich gleichförmig erscheinenden Gebrauchs von musikalischem Material changiert. Die Nutzung des Geräts erlaubt, die traditionelle Trennung von Arbeit und Freizeit partiell aufzuheben, indem es auf der Straße, in der U-Bahn oder auch eben während der Arbeit aktiviert werden kann.

Unter anderem signalisieren die iPod-User ihr Alleinsein-Wollen. Man spricht sie nicht an, während sie sich dem bewegungsanimierenden Rhythmus selbstgewählter Musik in einem Realraum anvertrauen, dessen Wahrnehmung sie dadurch verändern.(2)

Beobachtern mag diese Nutzungsform rein äußerlich als Anpassung, der iPod demnach als Nivellierungsinstrument musikalischer Erfahrung gelten. Das wäre ein mitgeliefertes, dem Produkt anhaftendes oder ihm unterstelltes unsichtbares Design, das jedoch partiell umdefiniert werden kann durch den tatsächlichen Gebrauch, der davon gemacht wird, indem sich die iPod-User, wie Bull ausführt, eine eigene Kultur des kollektiven und individuellen Hörens im Raum urbaner Öffentlichkeit selbst schaffen.

Das wäre ein unsichtbares Sekundär-Design, vom Hersteller wahrscheinlich gar nicht geplant, aber womöglich für den Erfolg des Produkts mitverantwortlich. Dessen sichtbares Design ist marginal, auch wenn Hardware-Designer und Marketingspezialisten das vielleicht anders sehen: Das Design des iPod realisiert sich in den Formen und Inhalten seines Gebrauchs, nicht auf seiner Oberfläche, und zwar an der Schnittstelle von Anpassung und abweichender Interpretation. Erst die individuelle und kollektive Aneignungsgeschichte der mehr oder weniger sichtbar oder unsichtbar durchgeformten Gegenstände komplettiert ein Design. Wie verdeckt vielschichtig und vor allem unsichtbar das geschieht, habe ich selber 1985 in einer empirischen Studie unter dem Titel „Leben mit den schönen Dingen“ dargelegt.(3) Seither glaube ich, dass man designhistorisch nicht seriös arbeiten kann, ohne auch auf kultursoziologischer, konsumpsychologischer, ja sogar psychoanalytischer und natürlich auf aneignungstheoretischer Ebene vorzugehen.

Ich sage das hier, damit nachher, wenn ich über die Unausweichlichkeit sprechen werde, mit der Design über uns kommt, kein Missverständnis entsteht: Nutzer sind keine willenlosen Opfer, keine blinden Konsumenten, die nur vorgesetzten kulturellen Mustern folgen – sie prägen diese mit. Der Sog, den die Apparatewelt der Moderne und Postmoderne entwickelt, ist unbestritten stark, wir alle erliegen ihm. Aber es sind im Gebrauch eigensinnige Interpretationen von Produkten denkbar.

Dabei geht es keineswegs nur um Geschmacksfragen. Wir haben als Designhistorikerinnen und Designhistoriker Kulturen des Entwerfens und Produzierens ebenso wie Kulturen des Gebrauchs und der Deutung von Produkten, nicht nur Designobjekte, darzustellen und zu interpretieren.

Da wir selber im Umgang mit Designobjekten von Vorlieben und Abneigungen gesteuert werden, ist eine selbstkritische Standortbestimmung unerlässlich. Die eigene Grundüberzeugung vom Wesen und Wert von Designleistungen muss hinterfragt werden. Normative Konstrukte wie beispielsweise die Ideologie der Guten Form sind historisch-kritisch zu bewerten.

Noch kein Design hat durch seinen Gebrauch nachweislich bessere Menschen erzeugt. Ich lege meinem Kreuz- und Querdenken daher weder einen idealistischen noch einen fatalistischen, sondern einen möglichst realistischen Interpretationsansatz zu Grunde und ziehe Schlüsse aus Beobachtungen, möglichst fakten- und quellengestützt; denn ich will wissen, was wirklich zwischen einem Design und seinen Nutzern geschieht bzw. geschehen ist. Ich treffe möglichst keine Vorentscheidungen darüber, was ich für gut oder schlecht halten würde. Ethisch-moralische oder ästhetische Einfärbungen des Blicks bedürfen selber einer Analyse: Wer produziert diese Einfärbungen? Wem nützen sie? Aus welchen historischen Quellen werden sie gespeist? Spiegeln sie ästhetisch-kulturelle, soziale, politische oder ökologische Einstellungen oder Denkmuster?

Jeder Ansatz designgeschichtlicher Forschungsarbeit sollte Distanz zu den Phänomenen bewahren. Von Wert ist nur, was man findet: etwas möglichst stimmig-nachweisbar im Design Objektiviertes.

Bleiben wir zunächst beim materiell vergegenständlichten, im Produkt sichtbar und handfest gewordenen Entwurf. Die historische Analyse dieses Produkts hätte im Hinblick auf sichtbare Gestalteigenschaften, in Vergegenwärtigung eines unsichtbaren Funktionsspektrums und mit Rücksicht auf seine Einbettung in den ökonomischen, technologischen und sozialkulturellen Hintergrund zu erfolgen, zu dem auch die Aneignungs- und Gebrauchsgeschichte zählt. Sichtbare Gestalt, unsichtbares Eigenschaftsprofil, gesellschaftlicher Kontext und die Aneignungsfolgen – auf diesen vier Ebenen sollte designgeschichtliche Forschung sich bewegen. Noch einmal: Beschreibung, Funktionsanalyse, Kontextualisierung und eine Interpretation im Gebrauch realisierter Bedeutungen sind unvermeidlich.

Das gilt auch für ein von vornherein unsichtbares, immaterielles Design. Doch bleiben wir erst beim sichtbar und greifbar Materialisierten: Von der Morphologie, Typologie und Ikonographie war schon die Rede. Wir werden aber auch eine Ikonologie der industriellen Artefakte entwickeln müssen, und zwar gleich doppelt. Schließlich treten alle sichtbar gestalteten Produkte bildhaft in Erscheinung, aber auch ihr Gebrauchsvollzug schlägt sich in chiffrierten „Bildern“ oder „Texten“ nieder. Dafür müssen wir Schlüssel finden – eine verlässliche Dechiffriermethode. Oder es wäre eine Semiotik der Produktkulturen zu entwickeln, die geeignet ist, historische Konsumszenarien als kommunikative Zeichensysteme zu rekonstruieren.

Wie die Ikonographie stammt auch das Instrument der Ikonologie aus dem Bereich Kunstwissenschaft/Kunstgeschichte und ist in Bezug auf Kunstwerke entwickelt worden. Aber das Verfahren passt auch auf Designobjekte. Es untersucht das Sichtbar-Bildhafte und deutet das Unsichtbare an ihnen. In einem kunstwissenschaftlichen Sammelband habe ich dazu Folgendes gefunden: „Vor allem anderen sucht der Ikonologe […] herauszufinden, welche göttliche oder teuflische Idee diese Produkte menschlichen Schöpfergeistes ausdrücken. Hier versucht er auch festzulegen, welches kulturelle Gewicht, oder besser welche gesellschaftliche Bedeutung bestimmten Formen […] zugewiesen werden.“(4)

Der Absatz bezieht sich auf frühchristliche Ikonen. Doch nach irgendeinem deus in machina oder Teufel in der Kiste fahndet man auch als Designhistoriker. Man sucht nach dem Unsichtbaren in und hinter den Dingen. Eine auf Designobjekte anwendbare Ikonologie, eine Bildwissenschaft, die Einzelstücke oder Produktensembles auf ihre Bedeutungsgehalte hin untersucht, ist unerlässlich, auch wäre eine soziologisch-ästhetisch-systemische Variante vorstellbar. Ich denke an das hochdifferenzierte Gefüge des Sichtbaren, das die unsichtbare Struktur des sozialen Feldes mit seinen Formen ikonischer Kommunikation im Konsumalltag spiegelt, die Pierre Bourdieu in seiner Studie über die „feinen Unterschiede“ (deutsch 1982) herausgearbeitet hat.(5)

Als Industriekultur-Ikonologe könnte man fragen: Was spiegelt sich in den bildhaften Codes der Produktkulturen? Wofür stehen die sichtbaren Formen? Welche Funktion erfüllen sie im Kulturprozess? Aber auch: Wo bilden sich unsichtbare Funktionen verdeckt ab? Welche Indizien sprechen für ihr Vorhandensein, und wie lassen sie sich beschreiben und interpretieren?

Nehmen Sie Software. Die ist absolut unsichtbar und körperlos. Aber sie setzt Funktionen in Gang, die sichtbare Folgen haben, zum Beispiel Gesten. Diese wären bildhaft wahrnehmbar und interpretierbar.

Ich würde es hier aber vorziehen, nicht von einer Ikonologie zu sprechen, weil die Programme eher Texte sind und bildhafte Gesten erst sekundär in Erscheinung treten. Ich würde an dieser Stelle lieber von einer Hermeneutik von Texten sprechen. Computerprogramme werden geschrieben, nicht gezeichnet oder plastiziert. Aber auch eine Hermeneutik des Unsichtbaren müsste auf den schon genannten vier Ebenen (Beschreibung, Funktionsanalyse, Kontextualisierung und im Gebrauch realisierte Bedeutung) vorgehen.

Oft treffen wir auf Mischformen des Sichtbaren und des Unsichtbaren wie beim neuen iPhone von Apple. Sein kompakt geschichtetes unsichtbares Funktionsprofil findet in einer unspektakulären Handy-Form Platz. Da ist wenig sichtbares Design im Verhältnis zum Unsichtbaren, das aus zahlreichen kommunikationstechnologischen Optionen und verdeckten Verhaltensvorschlägen für eine neue ästhetische Praxis des Gebrauchs besteht.

In der designhistorischen Analyse dieses Geräts würde man bald von der Morphologie, Typologie und Ikonographie zur Ikonologie und von dieser zu einer Hermeneutik des intendierten und des realisierten Gebraucherverhaltens und –bewusstseins übergehen und sich dabei den gesellschaftlichen Kontext gegenwärtiger und historischer Kommunikationsformen ins Gedächtnis rufen: Welche Bilder, Gesten oder „Texte“ werden hier reproduziert, variiert oder neu projektiert?

Und überhaupt: Welche Art Designgeschichte vollzieht sich an diesem Objekt? Wir bekommen heute vorgeführt, dass Programmierer oft das wichtigere Design liefern. Kaum glaublich, was die alles können. Zum iPhone zitiere ich die Süddeutsche vom 13. November 2007: „Wer beim Stadtbummel Musik hört, kann ohne einen Takt auszulassen, Fotos schießen und per E-Mail verschicken. Kommt ein Anruf, regelt das Gerät die Musik herunter und fragt, ob es durchstellen soll. Während des Gesprächs kann der Benutzer des iPhone Börsenkurse nachschlagen oder den angehängten Text einer E-Mail anschauen. Nach dem Auflegen setzt die Musik wieder ein.“ (6)

Aber das ist noch nicht alles. Kollege Rutherford, kanadischer Teilnehmer an unserer Tagung, hat mir gestern vor dem Abendessen eine private Einführung in den Gebrauch seines iPhone gegeben. An diesem Ding werden sich Designhistoriker, Wahrnehmungs- und Handhabungspsychologen und historische Anthropologen noch die Zähne ausbeißen. Vor allem an diesem antikisierenden Vokabular der Bedienungs-Gesten. Beim iPhone wird nicht nur ein touchscreen berührt. Da wird mit der Hand in der Luft etwas weggewischt, mit den Fingerspitzen etwas hervorgezupft, mit der Spreizung zweier Finger ein Bild vergrößert, kurzum mit den Händen mittels einfacher Gesten über die Gerätefunktionen verfügt.

Was bedeutet diese Rückkehr zur Geschichte händischer Beschwörung? Warum die Renaissance des Repertoires uralter Gesten? Ich weiß es einfach noch nicht.

Aber es handelt sich ohne Zweifel um ein Design, das über die digitalen Funktionen gelegt worden ist, jedoch aus einer anderen Epoche stammt, der analogen, die mit der Geschichte der Hand verschwistert ist.

Das sichtbar vergegenständlichte Design des iPhone ist im Vergleich dazu ein Schmarrn, zum Beispiel die immer leicht verschmierte Glasoberfläche, die man auch begrapschen darf, statt nur über sie hinwegzuwedeln.

Leider fehlt heute ein Sigfried Giedion, der die Geschichte der Digitalisierung so detailliert nachzeichnen würde wie einst die Geschichte der Mechanisierung. Hier spielt die Musik der Designgeschichte, nicht auf dem Markt angeblich cooler ästhetischer Postmodernismen. Deshalb zitiere ich den iPod und das iPhone. Designgeschichte findet im Hier und Jetzt statt. Die beiden aktuellen Objekte sind vorläufige Endstücke einer historischen Entwicklung. Sie animieren den vergleichenden Blick in die Vergangenheit und fordern, sich eine denkbare Zukunft vorzustellen. Beim iPhone fragt man sich: Wie hat Telekommunikation begonnen, wo steht sie heute und wohin könnte sie noch führen?

Designgeschichtsforschung ist eine kulturwissenschaftlich ausgeweitete Disziplin, die sich zwischen den Anfängen der Mechanisierung und den Perspektiven der digitalisierten Werkzeugkulturen bewegt. Sie hat nicht nur handfeste Produkte oder immaterielle Programme zum Gegenstand, sondern auch deren historisch-gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrund: Technologieschübe, Fabrikationsformen, Kapitalverflechtungen (siehe Globalisierung), Marktstrategien, soziale Strukturen, produktkulturelle Ritualbestände, Gebrauchserfahrungen – das ganze Umfeld der Ursprünge, Nutzungsweisen und Auswirkungen eines Produkts will dargestellt sein. Dabei gilt immer: Wir können nicht so tun, als seien das nur weit zurückliegende Ereignisse. Weder als Wissenschaftler noch als Laien können wir bei unseren Rekonstruktionsversuchen die Erfahrung der eigenen unmittelbaren Gegenwart ausblenden. Warum auch? Wir werden ja von der Gegenwart unablässig animiert, nach ihren Wurzeln in der Vergangenheit zu graben und Vergleiche anzustellen, um Gegenwart und Vergangenheit des Lebens in der Industriekultur besser zu verstehen. Nicht zuletzt in diesem ständigen Vergleichen-Können sehe ich eine Legimitation von Designgeschichtsforschung als Kulturwissenschaft.

Sie rekonstruiert ja nicht nur abstrakte Daten und weit zurückliegende Bedingungsgefüge der Gestaltung von Produkten, von Konsum-Ritualen und kultureller Erfahrung, sondern sie greift auf ein verflossenes praktisches Leben, auf Wirtschafts- und Arbeitsformen, auf einen Bestand an Umgangsweisen mit Produkten zurück. Sie wäre jederzeit in der Lage, Designkonsumenten von heute mit vergangenen Formen des Verhaltens zu konfrontieren. Ich verstehe designgeschichtliche Forschungsarbeit daher auch unter einem aufklärerisch-kulturpädagogischen Aspekt. Es gibt eine Pflicht zur Vermittlung von Erkenntnissen und Einsichten, die in den Raum des gegenwärtigen Designgebrauchs ragen. Dabei stellen sich Fragen, die alle Zeitgenossen berühren: Was machen Produkte mit uns, während wir sie mehr oder weniger blind gebrauchen? Was heißt es, in einer fortgeschrittenen Industriekultur mit einer hochgezüchteten Artefaktenwelt zu leben? Lässt sich das eigene Verwickeltsein in sie als eine Situation reflektieren, in der man sich selbst als kulturelles Subjekt historisch verstehen lernen kann? Diese Fragen und eventuelle Antworten wären einem Laienpublikum zu vermitteln, das bis zum Hals im Designsumpf steckt.

Etwas weniger dramatisch ausgedrückt: Designgeschichtswissenschaft sollte Designkonsumenten auf sich selbst und auf die Geschichte des Konfrontiertseins mit Design aufmerksam machen.

Nun können Sie einwenden, das macht doch das Museum. Das Museum bringt die gesammelten Bestände und das gesicherte designgeschichtliche Wissen anschaulich und allgemein-verständlich unter die Leute. Ach, wäre es doch so!

Tatsächlich konterkariert die gängige Museumspraxis Ansätze zum Verstehen von Designgeschichte eher als dass sie diese fördert. Nicht nur, dass oft schon im Aufbau der Sammlung das Prinzip Zufall oder die ästhetische Voreingenommenheit gewaltet haben und das Gezeigte nicht unbedingt repräsentativ für eine Epoche designgenerierter Alltäglichkeit steht. Vielmehr sind alle gelebten Gegenstandsbeziehungen, Bedeutungskonstrukte und kulturellen Erfahrungen in der trockenen Luft des Museums abgestorben. Man bekommt aus dem Gebrauch gezogene Dinge zu sehen und darf sich seinen Reim darauf machen, wer sie wohl wie hergestellt, gebraucht und angeschaut hat. Das einstige Leben mit den Objekten, deren Einbettung in die historische Kultur des Alltags darf man, soweit man das kann, als Museumsbesucher selbst imaginieren. Oft ist unklar, zu welcher Erkenntnis die Exponate verhelfen sollen und bleiben die Kriterien ihrer Auswahl undurchsichtig. In der Regel illustrieren die Objekte einen Kanon, an den Sammler und Kustoden glauben – also ein Konstrukt der Wertung.

Jeder Ansatz von Designgeschichtswissenschaft müsste sich des Glaubens an diesen Kanon entledigen oder dessen Genese und Anspruch selbst zum Forschungsgegenstand machen. Die produktkulturellen Wirklichkeiten der Vergangenheit sahen anders aus – nicht selektiv aufbereitet und bewertet, nicht geordnet wie im Museum, eher amorph durchmischt. Es hat zu jeder Zeit in den Kulturprozess verwickelte, sich überlagernde oder durchdringende oder sich voneinander absetzende, nach einem komplizierten Regelsystem hierarchisierte Gestaltungskonzepte und Produktformen gegeben. Davon erfährt man in der Regel im Museum nichts.

Es tut mir leid, dass ich Sie mit meiner Kritik am Museum provozieren oder langweilen muss. Aber sie dient zur Vorklärung dessen, was designhistorische Forschung heute über die Sicherung von Daten und Objektbeständen hinaus leisten muss, ohne sich von der ehrwürdigen Institution Museum ins Bockshorn jagen zu lassen.

Ich bezweifle nicht, dass das Design-Museum mit seiner Sammlung eine wissenschaftsorientierte Einrichtung darstellt. Schließlich arbeiten dort Wissenschaftler. Aber es stellt, wie das Kunstmuseum, vor allem Exklusivität her. Die ist in diesem Fall ganz und gar unberechtigt. Sie mag beim Kunstmuseum angebracht sein, das zwischen Kunst und Nicht-Kunst unterscheidet, eben weil es auch Nicht-Kunst gibt. Hier ist das Ausschlusskriterium nachvollziehbar.

Anders beim Designmuseum. Es gibt kein Nicht-Design, allenfalls ein für schlecht oder nichtig Erklärtes, das in der Regel mehr Gebraucher interessiert und berührt hat als das sogenannte Gute, durch den Kanon Abgesicherte. Es wäre verfehlt zu glauben, es habe je Produkttypen ohne Design gegeben. Natürlich gab und gibt es Ingenieurentwürfe, an die kein Designer Hand angelegt hat. Aber auch die haben ihr sichtbares und unsichtbares Design. Oft sind sie in ihrer technologisch-funk-tionalen Bestimmtheit und kulturell formgebenden Kraft aufschlussreicher für eine Epoche als jene kanonisierten Produkttypen, die unter der Kategorie Design firmieren.

Zum Forschungsgegenstand der Designgeschichtswissenschaft sollte daher vor allem das Durchschnittlich-Alltägliche, massenhaft Produzierte und Gebrauchte werden. Ein Kanon des Gewöhnlichen könnte dem museal fixierten Kanon des Besonderen als Korrektiv gegenübertreten. Es wäre herauszufinden, was sich hinter den Masken des Banalen verbirgt. Das heißt nicht, dass es keine prominenten Entwürfe zu beachten gäbe, in denen sich die Merkmale einer Epoche paradigmatisch verdichten. Ich empfehle nicht, diese zu vernachlässigen, im Gegenteil. Aber ich bitte darum, den großen Rest anonymer, unauffälliger Designobjekte als ebenso aufschlussreiches Material anzuerkennen. Es gibt keinen triftigen Grund, tradierte museale Selektionsmechanismen auf das Forschungsfeld zu übertragen. Vom Wissenschaftsstandpunkt aus gesehen gibt es nur ergiebiges oder weniger ergiebiges Material, kein gutes oder schlechtes.

Und wo die eigene ästhetische Voreingenommenheit sich einmischt, wären deren Grundlagen und Motive in einem Extra-Forschungsprojekt zu ermitteln. Im Grunde sollten Designhistorikerinnen und –historiker sich wie Ethnologen verhalten, die ohne persönliche Vorbehalte fremden Kulturen gegenübertreten, sogar ihren eigenen. Oder wie Industriekultur-Archäologen, die Funde und fremde Texte zu entschlüsseln haben.
Als Designhistoriker (hier wäre in der Tat die eher männlich-verspielte Variante unserer Zunft gefragt) könnte man auf den allgemeinen Musealisierungsboom mit der eigenen Hosentaschen-Sammlung antworten. Denken Sie an Plastikdübel, Flaschenöffner, Wegwerffeuerzeug – anonymes Kleinwerkzeug der mechanischen Epoche ohne auffälliges Design, aber mit einem weiten Kontext-Hintergrund, an den man denken könnte, während eine Hand versonnen mit dem Zeug spielt.

Das Designobjekt an sich, losgelöst von seinen Produktions- und Rezeptionsbedingungen, ohne gesellschaftliche Verankerung, gibt es nicht. Das behauptet nur das Museum, indem es auf Kontextvermittlung verzichtet. Das Museum isoliert die Objekte von ihrer tatsächlichen Geschichte und funktioniert ersatzweise als Auramaschine. Das kommt einer Geschichtsfälschung gleich. Zum Zeitpunkt ihrer Entstehung und Ingebrauchnahme hatten diese Objekte keine Aura. Sie verkörperten praktische, ästhetische und symbolische Gebrauchswerte und erzogen sich ihre Nutzer, während diese mit ihnen handgemein wurden.

Indem die Exponate von einer Aura umgeben vor Augen treten, erscheinen sie vom Schmutz ihrer Herstellungs- und Gebrauchsgeschichte gereinigt. Wir müssen sie zwangsläufig wieder beschmutzen, um sie zu entauratisieren. Designhistorisch arbeiten heißt auch, die Objekte in ihre historischen Räume und Funktionen zurückzuprojizieren. Dabei werden sie von ihrer sogenannten „zeitlosen“ Schönheit befreit, ein Begriff, der vergessen macht, dass auch Schönheitsideale historische Produkte sind. Gewiss gibt es viele Designobjekte, die unser gegenwärtiges Schönheitsempfinden immer noch berühren oder es sogar entzücken. Wir müssen uns aber klar darüber sein, dass es einmal andere Augen, andere Empfindungen gewesen sind als unsere, auf die das jeweils aktuelle Wohlgefallen zurückzuführen ist. Es wäre eine lohnende, wenn auch schwierige Aufgabe, herauszufinden, welche Art ästhetischer Erfahrung mit Industrieprodukten, die wir heute noch als schön empfinden, einst tatsächlich realisiert worden ist. Designgeschichtliche Forschung hätte den Blick, der früher auf den Objekten ruhte und sie schön und begehrenswert machte, wenigstens hypothetisch zu rekonstruieren.

Die kulturelle Farbe einer Epoche sollte bei allem wissenschaftlichen Vorbehalt gegenüber Fiktionen, von einfühlsamer Rekonstruktionsfantasie rückversinnlicht, dargestellt werden. Es wären vorgestellte „Bilder“ oder „Momentaufnahmen“ denkbar, die das Kolorit einer Epoche in ihren Objekt- und Ritualbeständen quasi poetisch aufscheinen lassen: Mit welcher gemessen-ausholenden Gebärde hat mein Großvater seine Taschenuhr aus der Weste gezogen, ihre Kette durch die Finger gleiten, den Deckel aufschnappen lassen, ihn dann wieder zugedrückt, um die Uhr umständlich aufzuziehen!

Und wie ruckeln wir kurz mit dem Handgelenk, damit die Manschette für einen Moment den Blick auf das ziffernlose Fenster des digitalen Chronometers freigibt, den eine Batterie antreibt.

Die Differenz der Gesten bezeichnet den historischen Abstand. Designgeschichte ist mit einer Geschichte der Gesten verschwistert – man sollte dazu Vilém Flusser lesen.(7)

Gesten sind historisch-kulturell eingefärbte Bewegungsmodelle, leiblich vollzogene, meist unbewusste Akte, durch die wir mit der Werkzeugwelt in Kontakt treten. Sie bilden sich im Museum nicht ab, sondern müssen vom Betrachter der Objekte über Einfühlung und Imaginationsfähigkeit abgerufen werden. Dabei könnte man eine ganze Design-Gebrauchsgeschichte auf der Basis einer Studie einst vollzogener Gesten vergegenwärtigen. Eine historische Phänomenologie der Gesten gehört in das Repertoire der empirischen und vergleichenden Designwissenschaften. Das Re-Enacting der Werkzeuge und Dinge wäre eine Methode, deren sich auch das Museum bedienen könnte, um wenigstens die sichtbare Art der Nutzung vor Augen zu führen.

Ich muss die Museumsleute nochmals um Verzeihung bitten, wenn ich ihre Institution benutze, um zu veranschaulichen, wie eine Vergegenwärtigung von Designgeschichte nicht funktionieren kann. Was sagt uns eine Versammlung von Kaffeekannen oder ein Radiogehäuse hinter Glas? Sie sagt uns, dass die Dinge im Museum dahindämmern und wir Eintritt bezahlen dürfen, um ihnen dabei zuzuschauen. Selbst leicht vermittelbare Informationen zum gesellschaftsgeschichtlichen Hintergrund einzelner Exponate werden oft verweigert. Dann wirkt die künstlich erzeugte Naivität der Präsentation ärgerlich wie in der Münchner Pinakothek der Moderne, die ein Exemplar des Volkswagens von 1946 ohne jeden Verweis auf seine einstige politische Funktion zeigt. Oder die aus Verlegenheit, tote Objekte präsentieren zu müssen, diese Leichen in einem Schau-Paternoster sich auf- und abbewegen lässt, als ob sie dadurch wieder lebendig würden.

Wer über mögliche Modelle wissenschaftlicher Durchdringung und Aufarbeitung von Designgeschichte nachdenkt, sieht sich herausgefordert, über angemessene Vermittlungsstrategien gleich mit nachzudenken. Mit anderen Worten: Wer eine Gesellschaft für Designgeschichte gründen will, muss auch das Designmuseum reformieren wollen. Es wäre mancherorts aus dem hermeneutischen Tiefschlaf zu wecken.

Freilich haben sicher nicht alle diese Einrichtungen den dringenden Wunsch nach Erweckung, weil sie als Aura- und Eventmaschinen funktionieren sollen wie die neuen Selbstdarstellungspaläste der Automobilindustrie. In den heiligen Hallen spiegeln sich pathetisch inszenierte Edel-Karossen und drehen sich um sich selbst im Rahmen einer Show-Architektur, die ihrer eigenen Musealisierung als Tempel-Bautyp der Techno-Postmoderne harrt.

Nun fasse ich in 8 Thesen zusammen, welche Inhalte und Ziele aus meiner Sicht eine Gesellschaft für Designgeschichte zu verfolgen hätte. Es handelt sich um Vorschläge, um ein Gerüst für gemeinsame Überlegungen, mit anderen Worten um einen Entwurf, der überarbeitungsbedürftig ist.

1. Zum Profil der Disziplin
Designgeschichtswissenschaft ist eine eigene, durch ihren Gegenstand definierte Disziplin, kein Nebenzweig der Kunstwissenschaft bzw. Kunstgeschichte.

Auch wenn Künstler verzierte Gebrauchsgegenstände schufen, wie einst Cellini das berühmte Salzfass: Schon im Zeitalter der Manufakturen als Übergangsstufe zur Industrialisierung hat es sich nicht mehr um Kunst oder Kunsthandwerk gehandelt. Gewiss war Schinkel vor allem Maler und Architekt. Doch sind seine Tafelstühle und die gusseisernen Möbel Design. Dass heute Kunst und Design gern vermischt dargeboten werden, ändert nichts an der Tatsache, dass Kunstwerke und Designprodukte kategorial verschiedene kulturelle Elaborate mit unterschiedlichem Zweck und Sinngehalt darstellen, die um dieser Differenz willen getrennt zu „beforschen“ sind.

2. Die multispektrale Orientierung
Designgeschichtsforschung ist eine breit gefächerte Disziplin: Die Verankerung von Designobjekten in der Technik- und Wirtschaftsgeschichte verweist primär auf historische Grundlagen der Fabrikation. Die Optimierung funktionaler und ästhetischer Produkteigenschaften verläuft vor dem Hintergrund einer Geschichte der Rationalisierung. Die produktsprachlichen Symboli-sierungsprozesse vollziehen sich in einem sozialgeschichtlich definiertem Raum. Die Gewöhnung an industrielle Ästhetisierungsprogramme erfolgt im Rahmen einer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Design. Der industriekulturelle Habitus, der eine Folge, aber auch eine Quelle von Entwurfsstrategien sein kann, erweitert das Untersuchungsfeld um allgemeine Figurationen des Verhaltens. Design war immer und ist noch immer Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse und epochaler Lebensformen. Jedes Designobjekt ist vor diesem Hintergrund zu untersuchen. Der methodische Ansatz kann nur komplex und mehrperspektivisch sein.

3. Das Sichtbare und das Unsichtbare
Designprodukte haben sichtbare und unsichtbare Eigenschaften, neuerdings oft nur noch unsichtbare.

Umso mehr gewinnt eine ökonomie- und technologiefundierte, sozialwissenschaftlich abgesicherte und kommunikationstheoretisch reflektierte Analyse vorfindlicher Produkteigenschaften an Gewicht, welche die sichtbaren und die unsichtbaren Konstanten oder Varianten des Produzierten aufdeckt. Dies beispielsweise auch im Sinne einer longue durée weit zurückreichender Stränge der kulturellen Erfahrung von der Gegenwart der Digitalisierung bis zurück zu den Anfängen der Mechanisierung. Zu entdecken wären Metamorphosen des Sichtbaren und des Unsichtbaren vor dem Hintergrund der zu rekonstruierenden Tiefe und Weite des Raumes der Designgeschichte. Jede Hermeneutik des Hergestellten und Gebrauchten muss sich mit diesem Raum befassen, das heißt damit, wie materielles und immaterielles Design darin definiert worden ist.

4. Zur Bandbreite der Forschungsarbeit
Designhistorische Rekonstruktions– und Verstehensversuche stehen vor einem Komplexitätsproblem: Sie müssen Genese, Ingebrauchnahme und Wirkungsfolgen materieller und immaterieller Produkte im Rahmen ihrer Verankerung in bestimmten Kontextfeldern vergegenwärtigen. Das heißt auch, sie bewegen sich in einem weitgespannten Zusammenhang zwischen Entstehungsgeschichte der Objekte und einer möglichen kollektiven Erinnerung an sie, wenn sie längst vom Markt verschwunden sind.

So gilt es, ein „Design des Design“ zu entdecken, bevor Entwürfe in Erscheinung treten oder sich im Produkt materialisieren.

Denn ehe ein Produkt realisiert auf dem Markt erscheint, durchläuft es diverse an das Produktionssystem gebundene Vordefinitionen. Eine Produktbiographie beginnt im Vorhof ökonomie- und technologiegebundener oder ideologisch-ästhetischer Entscheidungen. Und sie endet erst nach einer Geschichte des Gebrauchs im kulturellen Gedächtnis – siehe Volkswagen.

Designgeschichtswissenschaft sollte unter anderem charakteristischen Produktbiographien nachgehen, die diese weite Spanne umfassen. Das Vor-Design und das Nach-Design von Produkten ist historisch ebenso relevant wie eine durch Wahrnehmung und Gebrauch realisierte Form oder Funktion.

5. Das methodische Instrumentarium
Zu entwickeln und zu erproben wäre eine Ikonologie und/oder Semiotik oder eine Hermeneutik des Sichtbaren und des Unsichtbaren der im Rahmen epochaler Kontexte zu analysierenden Objekte.

Das den Bild- oder Sprachwissenschaften entlehnte Instrumentarium wäre jedoch nicht nur auf hervorragende Produkte, sondern auch auf unscheinbare Objekte anzuwenden. Man könnte so ganze Produktkulturen „von unten“ aufrollen und dabei Einengungen zum Beispiel durch den Kanon des Museums vermeiden.

Egal, welche Klasse von Objekten oder Virtualisierungsformen man einer Untersuchung für wert hält, es müsste in jedem Fall an der Angemessenheit des analytischen Instrumentariums gearbeitet werden. Die Frage wäre: Mit welcher Akribie sollen Alltagskulturen beziehungsweise Aneignungsformen und alltägliche Deutungsweisen in Gebrauch befindlicher Produkte beobachtet, wie können vergangene Kulturwirklichkeiten im Detail rekonstruiert werden?

Meiner Ansicht nach stehen wir erst am Anfang der Werkzeugentwicklung für das Erfassen und Interpretieren designhistorischer Phänomene. Eine Experimentalphase der methodischen Instrumentierung wäre sinnvoll.

6. Die anthropologische Perspektive
Eine Dimension des Unsichtbaren, vielleicht die für die Zukunft bedeutendste, ist in der unauffälligen Formung der Erfahrung und des Bewusstseins über die Anpassungsleistungen des Gebrauchers an materialisiertes oder immaterielles Design angelegt. Design formt unmerklich Menschen. Dies in unaufhaltsamer Schicksalhaftigkeit: „Die Ereignisse kommen zu uns, nicht wir zu ihnen“(8). Der vor mehr als fünfzig Jahren notierte Satz des Philosophen Günther Anders bezeichnet die Unausweichlichkeit, mit der wir von der Produktumwelt geprägt werden.

Anders sah die Ereignisse schon in anthropologischer Perspektive: „Was aus dem Leib werden soll, ist (…) durch das Gerät festgelegt, durch das, was das Gerät verlangt.“(9)

Im Zuge designanalytischer Studien stößt man nicht nur auf sich verändernde Produktkulturen, sondern auch auf neue Selbstwahrnehmungsentwürfe ihrer Gebraucher, ja auf Formen leiblicher, mentaler und psychischer Anverwandlung an das Eigenschaftsspektrum der Apparatewelt. Zur historischen Anthropologie des Industriezeitalters hätte designgeschichtliche Forschung daher einiges beizutragen. Der „Neue Mensch“ war eine Projektion der Moderne. Welches Entwicklungsmodell des Menschen schwebt der Postmoderne vor? Auch Menschenbilder sind ein designhistorisches Thema.

7. Integration der Forschungsstränge
Soeben war von historischer Anthropologie die Rede, vorab hatte ich von Ökonomie, Technologie, Ästhetik, Soziologie und Psychologie der Designphänomene gesprochen. Das heißt, es müssen verschiedene Wissenschaftszweige in ein Modell designhistorischer Erarbeitung integriert werden.

Ob aber eine bloße Addition der Ergebnisse aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zu validen designhistorischen Erkenntnissen führt, ist fraglich. Die Qualität der Forschungsarbeit hängt von der Integrationsfähigkeit einzelwissenschaftlicher Ansätze und Erkenntnisse ab. Ich frage daher: Müsste es nicht eine Meta-Theorie des Design im Rahmen seiner gesellschaftlichen Genese und Funktion geben, um das Auseinanderfallen einzelwissenschaftlicher Aspekte zu verhindern?

Niklas Luhmann hat Kunst als ein „sich selbst beschreibendes“ gesellschaftliches Subsystem bezeichnet, das die Fähigkeit besitze, „imaginäre Welten in die Lebenswelt hineinzukonstruieren“.(10) Könnte man Design als ein sich selbst beschreibendes gesellschaftliches Subsystem bezeichnen, das die Fähigkeit entwickelt hat, Verhaltensformen und Erfahrungsgehalte in das Leben mit der industriellen Artefaktenwelt hineinzukonstruieren? Dies im Zusammenhang mit den Leitsystemen von Technik und Wirtschaft im Sinne einer „operativen Schließung des Gesamtsystems“(11) der Gesellschaft, wie Luhmann sagen würde?

Ich meine, dass alles, was Einzelwissenschaften zur Analyse von Design in seiner Geschichte beizutragen haben, auf eine systemtheoretische Grundlage zu beziehen wäre.

Schließlich befassen wir uns mit systemischen Strukturen, wenn wir von Technologietransfer, Rationalisierung, Funktionalismus, Märkten, Produktplanung und Gestaltung sprechen. Irgend ein Design des Design steckt hinter jedem Design. Man wüsste gern, welches.

Aus bekannten Gründen ist der Marxismus, der nicht nur eine fundamentale Kapitalismuskritik enthielt, sondern auch eine politisch-ökonomische Systemtheorie darstellte, momentan nicht en vogue, obwohl er gegenwärtig die stärksten Argumente aus dem System selbst geliefert bekäme. Auch haben Marx und Engels schon vor 160 Jahren das Phänomen der Globalisierung und deren Folgen vorausgesagt.

Doch als politisch korrekte Metatheorie gilt heute eine eher gemäßigte kulturphilosophische Sicht auf Geschichte und Gegenwart des Design. Prominentes Beispiel ist der Soziologe Richard Sennett mit seinem gerade erschienenen Buch über das Handwerk.(12) Sennett scheint sich darin zum Ruskin des 21. Jahrhunderts zu entwickeln. Ich vermute, dass er im dritten Band seiner geplanten Trilogie, dem zur Ökologie, auch William Morris wieder entdecken wird, den ersten linken Grünen oder grünen Linken.

Sie sehen, dass sich im Überbau der philosophischen Inaugenscheinnahme von Designgeschichte durchaus etwas tut.

Man könnte meinen, das neue Buch von Sennett sei pünktlich wie ein Stern über unserem Treffen zur Gründung einer Gesellschaft für Designgeschichte aufgegangen, auch wenn man bezweifeln darf, über einen wiederbelebten Handwerksbegriff den Komplex Design und Industriekultur erschließen zu können, es sei, man bezöge ihn auf das eigene wissenschaftliche Handwerk als Kulturform.

Sagen wir: Es geht heute um eine historisierende Designwissenschaft als vertrackt komplizierte empirische und philosophische Handwerksdisziplin in einer Phase der Scheidung oder Verbindung analoger und digitaler Produkte.

8. Der öffentliche Auftrag
Designgeschichtswissenschaft hat materialisierte, zunehmend auch immaterielle Produktformen zu untersuchen. Sie sind in ihrer Eigenart, Bedeutung und Wirkung zu entschlüsseln wie ein einerseits vertrauter, andererseits fremder Text. Designhistorikerinnen und Designhistoriker müssen diesen Text rekonstruieren, analysieren und übersetzen.

Designgeschichtswissenschaft ist keine exotische Randdisziplin der Geisteswissenschaften. Denn sie erforscht Ursprung, Gestalt, Wesen und Wirkung von Massenproduktkulturen einschließlich jener, in der wir leben. Sie ist auf dem Wege, ein Instrumentarium zur Analyse von Lebensformen und kultureller Erfahrung im Industriezeitalter zu entwickeln. Dabei thematisiert sie Vorbereitungen des Heute im Gestern.

Die Ergebnisse solcher Arbeit sind von unmittelbar öffentlichem Interesse, weil jeder Einzelne davon betroffen ist. Eine Gesellschaft für Designgeschichte wird daher nicht nur Forschungsarbeit anregen und begleiten, sondern sich auch in Öffentlichkeitsarbeit üben müssen. Gemessen am gegenwärtigen Publizitätsgrad von Kunst ist Design noch ein weitgehend unentdeckter Kontinent kultureller Bindungen. Er wäre in allgemeinverständlicher Form zu beschreiben und mit Bewusstsein betretbar zu machen.

Gestatten Sie ein persönliches Nachwort:
Ich bin gar kein Designhistoriker von Beruf. Ich habe nur gezwungenermaßen jahrzehntelang immer wieder über Design dilettiert, was ich allerdings spannend fand, weil die Beschäftigung mit Designgeschichte eine Möglichkeit war, mir meine eigene kulturelle Existenz im Hier und Jetzt mit ihren freiwilligen oder erzwungenen Anpassungsleistungen und kleinen Fluchten zu Bewusstsein zu bringen, also mich als ein an den heutigen Stand der Industriekultur gebundenes Individuum zu begreifen.

Vielleicht ist es das, was mich antreibt, nicht die Finger von diesem Thema zu lassen und sogar hier vor Ihnen darüber zu sprechen. Aber eigentlich bin ich nur aus Zufall hier, so wie ich zufällig in die Lage geriet, mich mit Designgeschichte befassen zu müssen. Vor langer Zeit war ich unter anderem Zeichenlehrer für Designstudenten an der Werkkunstschule in Darmstadt. Ein Kunsthistoriker der TU las dort zwei Stunden in der Woche Designgeschichte. Den wollten die von den 68er Ereignissen infizierten Studenten nicht mehr hören. Also bedrängten sie mich. Was blieb mir übrig, als ihnen im Lernen immer einen Tag voraus zu sein? Ich geriet unter Druck, aber so entstand mein erstes Buch.(13)

Eine Gesellschaft für Designgeschichte sollte wenigstens den Zufall eliminieren. Schließlich ist der status quo der Industriekultur kein Zufall. Und sie sollte den Druck durch stetige Professionalisierung von Forschung und Lehre mildern. Wir brauchen Qualifikation und Gelassenheit in diesem Metier. Vor allem bedarf es einer Vernetzung designhistorischer Aktivitäten. Diesen Rückhalt habe ich stets vermisst. Ich nehme an, auch andere brauchen ihn dringend angesichts der Tiefe und Weite des Themenfeldes.

Aleida Assmann schreibt in ihrem neuen Buch über „Geschichte im Gedächtnis“: „Gegenwart verwandelt sich ununterbrochen und unaufhaltsam in Vergangenheit.“(14)

Das bedeutet: Was wir heute wahrnehmen, ist morgen schon Geschichte. Wir dürfen daher jeden Tag beginnen, über Designgeschichte neu nachzudenken, über das momentane Geschichte-Werden und das stete Gegenwärtigsein von Geschichte.

Was daraus folgt, könnten wir einen pragmatischen Historismus nennen, der uns davor bewahrt, von irgendeiner Design-Zukunft kalt erwischt zu werden.

Anmerkungen

  1. Lucius Burckhardt: Design ist unsichtbar. In: H. Gsöllpointner/A. Hareiter/L. Ortner (Hg.): Design ist unsichtbar. Berichtband des Österreichischen Instituts für visuelle Gestaltung in Linz zur Tagung „Forum Design“. Wien 1981.
  2. Michael Bull: The Seamlessness of iPod Culture. In: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie Bd. 16, Heft 2, 2007, S. 89ff.
  3. Gert Selle/Jutta Boehe: Leben mit den schönen Dingen. Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens, Reinbek 1985.
  4. Godefriedus Johannes Hoogewerff: Die Ikonologie und ihre wichtige Rolle bei der systematischen Auseinandersetzung mit christlicher Kunst. In: E. Kaemmerling (Hg.): Bildende Kunst als Zeichensystem, Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklung, Probleme. Bd. 1, Köln 1979, S. 86 (Der Aufsatz stammt von 1928).
  5. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982.
  6. Michael Fuhs: Hübsch und ein bisschen dumm. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 261, 13. November 2007, S. 18.
  7. Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt a. M. 1982.
  8. Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1 (Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution). 2.Aufl. München 2002, S. 110.
  9. Ebd., S. 39.
  10. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995, S. 17.
  11. Ebd., S. 481.
  12. Richard Sennett: Handwerk. Berlin 2008.
  13. Gert Selle: Ideologie und Utopie des Design. Zur gesellschaftlichen Theorie der industriellen Formgebung. Köln 1973; 2. Aufl. Wien 1997.
  14. Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München 2007, S. 180.