Christian Wölfel, Sylvia Wölfel, Jens Krzywinski (Hg.): Gutes Design

Martin Kelm und die Designförderung in der DDR
Der Chefdesigner der DDR

Rezension von Siegfried Gronert

Vor rund einem Jahr kursierte eine Ankündigung von der Technischen Universität Dresden, dass eine kommentierte Autobiografie von Martin Kelm in Arbeit sei. Der Direktor des zentralen Instituts für Gestaltung in Berlin von 1962 bis 1972, Leiter des Amtes für Formgestaltung (AIF) von 1972 bis 1989, in dieser Zeit Staatssekretär beim Ministerrat und in vielen Funktionen tätig, war zweifellos, wenngleich nicht unumstritten, der Chefdesigner der DDR. Erhalten wir 25 Jahre nach der Wende eine kritische Binnensicht der Formgestaltung in der DDR unter Walter Ulbricht und Erich Honecker?

 Nun ist eine Art Festschrift mit dem Titel „Gutes Design. Martin Kelm und die Designförderung in der DDR“ erschienen, herausgegeben für die TU Dresden von Jens Krzywinski und Christian Wölfel vom Zentrum für Technisches Design, und Sylvia Wölfel, Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Technik- und Technikwissenschaftsgeschichte. Im Zentrum steht Kelms Beitrag über die staatliche Designförderung und ihre Verbindungen zur Politik: „Meine Funktion machte Kontakte zur Staatsführung der DDR notwendig. Ich gewann Einblicke in Vorgänge, über die bisher nicht publiziert wurde.“ Solche Aussagen wecken Erwartungen, auch an die anderen Beiträge, die den autobiographischen Text Kelms kommentieren und einordnen sollen. Wer von Kelm Selbstkritik erwartet, wird jedoch enttäuscht. Das Leiden vieler Formgestalter bei ihrem Versuch, der hypertrophen zentralistischen Durchsetzung des „guten Designs“ zu entkommen, bleibt im Dunkeln. Zusammen mit den Erlebnissen und Gegenreden von Zeitgenossen ist dennoch ein wichtiges Dokument zur Designförderung in der DDR entstanden.

Die Einmaligkeit der zentralistisch gesteuerten Designförderung in der DDR und die Besonderheit der eigenen Rolle stellt Kelm in den Mittelpunkt seiner Darstellung: „Als Leiter des AIF und zugleich Staatssekretär trug ich Verantwortung für einen Teil wesentlicher Design-Regulative.“ Er war ein Aufsteiger wie ihn die DDR gerne propagierte. 1930 in Mecklenburg als Sohn eines Waldarbeiters geboren, machte Kelm nach dem Krieg eine Lehre als Elektriker und studierte nach einer Fachschulausbildung an der Hochschule für bildende und angewandte Kunst Berlin-Weißensee. Zu jener Zeit übernahm Rudi Högner die Leitung der Abteilung für Formgestaltung. Högner gehörte – wie Wilhelm Wagenfeld und Wilhelm Braun-Feldweg im Westen und Horst Michel im Osten – zu der um 1900 geborenen, zweiten Gestalter-Generation nach den Pionieren um Walter Gropius. Kelm sieht ihn als seinen maßgeblichen Lehrer und einen Vorbereiter des Technischen Designs in der DDR. Die riesigen Portalkrane für Seehäfen, die Kelm 1958 in seiner Abschlussarbeit als Diplom-Formgestalter entwarf, wurden vom Spezialbetrieb Kranbau Eberswalde übernommen und stehen heute noch in den Häfen von Rostock, Wismar und Stralsund.

Sofort nach dem Diplom begann der steile Aufstieg Kelms, Mitglied der SED war er bereits seit 1953. Nach einer kurzen Assistentenzeit lehrte er 1961 als Dozent für Industrielle Formgestaltung an der Burg Giebichenstein in Halle, und übernahm 1962 den Posten des Direktors im Zentralinstitut für Gestaltung in Berlin, aus dem später das mächtige AIF hervorgehen sollte.

Kelm bietet keine plausible Begründung für seinen rasanten Aufstieg. Er sei nach dem Diplom von seinem ehemaligen Fachschullehrer, Werner Laux, inzwischen Leiter der Abteilung bildende Kunst im Ministerium für Kultur, mit der Umbildung der Hallenser Kunstschule und Werkstätten in eine Hochschule für industrielle Formgestaltung beauftragt worden. „Die guten Leistungsergebnisse im Institut und beim Umbau der Hochschule Halle waren für den Minister für Kultur [Hans Bentzien, 1961-65] der Ausgangspunkt, mich zum Direktor des Instituts für angewandte Kunst Berlin zu berufen.“ Später habe die Hochschule von den Mitteln des AIF profitiert.

In den bisherigen Publikationen zur Burg Giebichenstein wird Kelm jedoch nur am Rande erwähnt. Demnach handelte Walter Funkat, ein ehemaliger Bauhäusler und Rektor der Schule in Halle von 1958 bis 1964, die Umbildung in eine Hochschule für industrielle Formgestaltung 1958 selbst mit dem Minister für Kultur (Alexander Abusch, 1958-61) aus. Zur Unterstützung wurden Kelm und sein Kollege Horst Giese aus Berlin-Weißensee nach Halle versetzt, die Leitung der 1959 neu gegründeten Abteilung für Technische Formgestaltung übernahm (aus Berlin kommend) Werner Laux. Wer darüber hinaus was zu verantworten hatte, dieses Puzzle kann diese Rezension nicht auflösen. Hier – und an vielen anderen strittigen Stellen – hätten die Herausgeber nacharbeiten sollen.

Nur angedeutet wird die Vorgeschichte des Instituts, das Kelm 1962 übernahm. Mart Stam, der Gründer des ursprünglichen Instituts, das bereits die prägende Bezeichnung industrielle Formgestaltung trug (1950-52), wurde im Zuge der 1951 einsetzenden Formalismusdebatte vertrieben. Das alleine schon widerspricht der Ansicht Kelms, die Formalismusdebatte habe nur „begrenzte“ Auswirkungen gehabt, nämlich alleine auf die künstlerischen Disziplinen, während die industrielle Formgestaltung für technische Produkte nicht betroffen gewesen sei. Tatsächlich jedoch ließ sich der auf Stam folgende Leiter des Instituts, Walter Heisig, auf die absurden Gestaltungsvorschriften der politischen Führung ein und prägte den Merkspruch: „Ein Besteck ohne Ornament ist Formalismus“. Die Formalismusdebatte – angestoßen von der Sowjetunion – betraf in den 1950er und frühen 1960er Jahren eine ganze Generation von Formgestaltern in ihrer beruflichen und persönlichen Existenz. Tatsächlich war das Bauhausbis zum Ende der Formalismusdebatte verfemt und die Gebäude in Dessau verfielen. Heute sieht sich Kelm als „betroffener Akteur für die Wiedererrichtung des Bauhauses.“ Immerhin erschien 1963 die politisch entscheidende Umdeutung des Bauhauses in der Schriftenreihe des Instituts für angewandte Kunst (Leonid Pazitnov: „Das schöpferische Erbe des Bauhauses 1919 – 1933“).

Als Kelm an die Spitze kam, waren viele Kämpfe schon ausgetragen, Siege und Niederlagen schon verbucht. Horst Michel von der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar, seit 1957 verantwortlich für viele staatsoffizielle Ausstellungen für angewandte Kunst und Innengestaltung, war 1962 auf der V. Deutschen Kunstausstellung in Dresden wegen zu moderner, „formalistischer“ Exponate mit Walter Ulbricht aneinandergeraten. In der folgenden Debatte hatte auch Kelm das Wort ergriffen, aber es ist wirklich nicht auszumachen, dass er damals gegen die Doktrin des Formalismus sprach (wie er heute behauptet). Fünf Jahre später zeigt ein Foto von der VI. Deutschen Kunstaustellung in Dresden (1967) wie Ulbricht und Honecker von Kelm durch die Abteilung Formgestaltung geführt werden, während Michel als Leiter dieser Sektion aus einer der hinteren Reihen zuschaut.

Die eigentliche Leistung Kelms besteht weniger in dem Widerstand gegen die Geschmacksverwirrungen seiner politischen Führung, gegen die er eingestanden wenig ausrichten konnte, sondern im Aufbau einer zentralistischen Gestaltungspolitik für ein technisch orientiertes Design. Dessen programmatischer Kern bestand in einer sehr engen Verbindung zwischen Technik, Industrie und Formgestaltung bis hin zu der Version einer gestalterischen Zusatzausbildung für Techniker und Ingenieure, die Högner in Berlin-Weißensee und Dresden aufbaute und die man an der TU Dresden heute noch verfolgt. Kelm hat diese Position seit Amtsantritt an im Blick gehabt: „Ohne die Förderung des Kunsthandwerks zu vernachlässigen, sollte das Institut auf die industrielle Formgestaltung profiliert werden.“ Dabei meinte „Kunsthandwerk“ alle ambitionierten Gestaltungspositionen jenseits von Industrie und Technik. Sie wurden nach und nach aus dem Institut gedrängt und erhielten dann in dem Verband Bildender Künstler Deutschlands (VBK, ab 1974: der DDR) eine eigene Sektion Formgestaltung/Kunsthandwerk. Somit wurde der alte Gestaltungskonflikt zwischen Kunst und Industrie (Werkbundstreit 1914) in der DDR mit Auseinandersetzungen zwischen dem Künstlerverband und dem Institut sowie mit den jeweils programmatisch angebundenen Hochschulen fortgeführt. Im Institut verlagerte sich der Schwerpunkt, so Kelm, „auf die Anleitung und Unterstützung der Industrie in Designfragen, wie zum Beispiel auf die Zuführung von Designern, den Aufbau so genannter Industrieateliers oder die Wahrnehmung des Design in der Planung und im Forschungs- und Entwicklungsprozess für neue Erzeugnisse.“

Mit der Umwandlung des Instituts in das Amt für industrielle Formgestaltung (AIF) im Jahre 1972 erhielt das Amt mehr Eigenständigkeit, unterstützt durch die Ernennung Kelms zum Staatssekretär. Zudem erweiterte es seine Aufgaben auf die Planung und Kontrolle von „Designerquoten“ in der Industrie und sogenannten Industrieateliers. Konflikte mit Kunsthandwerkern und freiberuflich tätigen Designern waren damit vorprogrammiert. Letztere mussten dem VBK als eine Art Berufsverband beitreten, um tätig werden zu können, was die Gräben zwischen AIF und VBK noch verstärkte. Kelm räumt heute ein: „So war die Planung immer nur die eine Seite, … und mag einer der Gründe sein, warum das AIF nicht bei allen Designern gleich gut angesehen war.“ Letztendlich zerstörten die Regelungen das bestehende Netzwerk zwischen den freiberuflichen Formgestaltern und der Produktion. Gleichwohl muss Kelm schon damals gesehen haben, dass eine qualifizierte Designpolitik nicht die Mängel der ökonomischen, materiellen und technischen Bedingungen in der DDR ausgleichen oder überwinden konnte – und das auch und gerade in technischen Bereichen: „So war es der Elektroindustrie nicht möglich, von der Bevölkerung gewünschte hochwertige Produkte, wie CD-Player, Videorekorder oder gute Audio-Anlagen, herzustellen. … Die Regierung verabschiedete einige Konsumgüterprogramme, das AIF wurde zur Vorbereitung dieser Programme einbezogen, erfüllt wurden sie nicht.“

Davon abgesehen war das Tätigkeitsfeld des Amtes nahezu allumfassend. Seit 1978 wurden die Auszeichnungen Gutes Design (auf der Leipziger Messe) und Designpreis der DDR vergeben. Damit verbunden setzte sich die angelsächsische, westliche Bezeichnung „Design“ (anstelle: Formgestaltung) in der DDR durch – ein bezeichnender Hinweis auf die Konvergenz der Gestaltungssysteme in Ost und West. Dazu kam die Herausgabe der Zeitschrift form+zweck, deren Chefredakteure, wie Kelm schreibt, bis hin „zu politisch motivierten Abberufungen“ ihre Meinung vertraten. Auch hier hätte man gerne mehr erfahren. Seiner eigenen Geschichte gegenüber ist Kelm jedenfalls nur sehr begrenzt kritikfähig. Und er traute sich alles zu, was von ihm verlangt wurde. Neben seinen umfassenden Tätigkeiten im Amt war er mit architektonischen Arbeiten für Ministerien, Partei- und Staatsführung beschäftigt: Schloss Hubertusstock (im „bayrischen Stil“) mit Gästehäusern und weiteren Bauten am Werbellinsee, Jagdhaus Drewitz am Drewitzsee, Haus Wildfang als Freizeithäuschen für die Familie Honecker, Einrichtung der Arbeitsräume des Generalsekretärs, des Staatsratsvorsitzenden und Innengestaltungen im Gebäude des Ministerrates und der Volkskammer.

In den begleitenden Beiträgen werden einige Punkte etwas deutlicher. Anne Sudrow erkennt in der 1971 in Ostberlin publizierten Dissertation Kelms, „Produktgestaltung im Sozialismus“, alle wesentlichen Programmatiken: die theoretisch begründete Formgebung in der industriellen Produktion und die institutionelle Position einer zentralistischen Designförderung im Sozialismus. In der Praxis sei die Arbeit des Amtes aufgrund der zentralistischen Regelungen und unzureichenden Bedingungen von einer „relativen Erfolglosigkeit“ gewesen.

Bestätigt wird diese Einschätzung in einem aufschlussreichen Interview mit Johannes Uhlmann und Karl-Heinz Schaarschmidt, die bis vor wenigen Jahren an der TU Dresden lehrten. Dass Kelm dagegen der DDR heute „im Vergleich zu vielen Industrieländern einen der vorderen Plätze im Designniveau“ einräumt, hängt davon ab, womit er die DDR vergleicht. Aus Sicht der sozialistischen Länder war die zentralistische Designförderung in der DDR vorbildlich. Das galt auch für die Sowjetunion, wie Margareta Tillberg in ihrem Beitrag über die Beziehungen zum sowjetischen „Allunionsinstitut für technische Ästhetik“ (WNIITE) ausführt. Kelm fuhr mindestens einmal im Jahr nach Moskau zu Jurij Solowjow, dem damaligen Leiter des sowjetischen Instituts.

Aus bundesrepublikanischer Sicht gibt es in dem vorliegenden Buch die freundlichen Grußadressen von Peter Frank und Ulrich Kern, die beide in ähnlichen Positionen tätig waren (Haus Industrieform Essen, später Design-Zentrum NRW,  Design Center Stuttgart, Rat für Formgebung)). Frank zeigte ein Jahr vor der Wende in Stuttgart eine Ausstellung des Amtes. Sie kannten sich auch von den internationalen Tagungen des ICSID, in dessen Gremien Kelm das Thema „Design als staatliche Aufgabe“ moderierte.

Insgesamt folgt das Buch einerseits der offiziellen Sicht des AIF und stellt das Technische Design als alleiniges Merkmal des Designs in der DDR heraus. Andererseits werden kritische zeitgenössische Stimmen, teilweise gefiltert durch protokollierte Gespräche, einbezogen. Es sind (neben den bereits Genannten) überwiegend Stimmen aus Dresden: Peter Altmann, ehemals AIF; Winfried Klemmt, ehemals Designer im VEB Werkzeugkombinat „7. Oktober“; Rolf Roeder, Formgestaltung im Institut für Luft- und Kältetechnik Dresden; Swen Steinberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Dresden; Bernhard Sorg, ehemaliger Mitarbeiter der AIF-Ausgründung VEB Produkt- und Umweltgestaltung Dresden. Doch die wirklich gewichtigen Zeitgenossen Kelms – wie der langjährige Vizepräsident des VBK, der Designer Clauss Dietel, der offen gegen Kelm opponierte – sind außen vor geblieben. Dietel warnte schon in der DDR eindringlich vor dieser maßlosen staatlichen Designförderung und sieht heute darin gar ein „Menetekel für Europa“. Auch Hein Köster, einer der aus der Redaktion von form+zweck „Abbberufenen“ und spätere Leiter der Sammlung Industrielle Gestaltung, hätte kompetente Einsichten beisteuern können.

Das Buchprojekt hat also kräftig Schlagseite. Eine Übersicht über die gesamte designpolitische Landschaft in der DDR wäre hilfreich gewesen, um den Beitrag Kelms einordnen zu können. Freilich fehlten den Herausgebern die Ressourcen für eine vollständige Darstellung der Problematik. Insgesamt ist dennoch ein äußerst wichtiges Dokument zur staatlichen Designförderung in der DDR entstanden, das nun zu vertiefender Recherche und Kritik herausfordert. Vielleicht kann die geplante Ausstellung zum AIF von der Stiftung Haus der Geschichte in der Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg kritisch daran anknüpfen (vgl. dazu die Forderungen der Gesellschaft für Designgeschichte).

Anzumerken bleibt noch eine unangenehme Besonderheit dieser Festschrift. Es war nicht allen Autoren bekannt, dass Kelm die Beiträge vor der Publikation zur Kenntnis erhalten würde und somit die Gelegenheit hatte, die er dann auch wahrnahm, in einem eigenen Vorwort die ihm nicht geneigten und geeigneten Passagen der namentlich genannten Autoren zu kritisieren, andere zu loben. Das verstößt gegen das Vertrauen, das ein Autor in den Herausgeber setzt, dass nämlich sein Beitrag bis zur Publikation vertraulich behandelt wird und nicht einem Mentoring durch irgendeine und schon gar nicht durch die kritisierte Person unterzogen wird.

Gutes Design. Martin Kelm und die Designförderung in der DDR. Her­aus­ge­ge­ben von Chris­tian Wöl­fel, Syl­via Wöl­fel und Jens Krzy­win­ski, 27 × 21 cm, 247 Sei­ten mit 209 Abbil­dun­gen. The­lem, Dres­den, 2014 (ISBN 978–3-945363–11-9), 36,80 Euro. Bestellung im Buchhandel oder versandkostenfrei direkt bei der TU Dresden unter buch@industrielleformgestaltung.de.

Nachweis: www.gfdg.org
[Vgl. auch die folgende Rezension von Günter Höhne]