Anne Sudrow: Der Schuh im Nationalsozialismus

Eine Produktgeschichte im deutsch-britisch-amerikanischen Vergleich

Rezension von Siegfried Gronert

Über den Schuh im Nationalsozialismus wusste man bisher eher wenig. Über den Schuh? Im Nationalsozialismus? Nun gibt es dazu mehr als 800 gedruckte Seiten, dicht und gut geschrieben, mit einer schier unglaublichen Fülle von Informationen, die das Gedächtnis und den Zettelkasten zu sprengen drohen. Der Titel erhält seine Aufmerksamkeit von einer Emphase, die das Kleine mit dem Großen, das Praktische mit der Ideologie, das Alltägliche mit der Katastrophe verbindet. Im Text wird das sehr nüchtern, sehr detailliert, sehr verständlich, sehr kompetent und übersichtlich strukturiert ausgebreitet – hilfreich sind dabei die knappen Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels.

Das Thema ist teilweise aus der Biographie der Autorin zu verstehen. Der Vater, Otto Sudrow, war Mitbegründer und langjähriger Geschäftsführer des MAGAZIN, eines Ladens für Design in Verbindung von Arbeiten und Wohnen. Anne Sudrow, geboren 1970, machte zunächst eine Lehre im Schuhmacherhandwerk in Northampton, Großbritannien, bevor sie das Studium der Geschichte, Publizistik und Wissenschafts- und Technikgeschichte 2009 mit einer Promotion an der Technischen Universität München abschloss. Heute arbeitet sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Die mit Stipendien geförderte und dann ausgezeichnete Dissertation zum Schuh im Nationalsozialismus in Deutschland erschien 2010 leicht gekürzt und hervorragend lektoriert im Wallstein-Verlag.

Es geht um den Schuh in Technik, Wirtschaft und Handel von den 1920er bis zu den 1950er Jahren in Deutschland und im Vergleich mit Großbritannien und den USA. Im Zentrum steht die Zeit des Nationalsozialismus. Einzelne Kapitel behandeln die Konsumforschung und die orthopädische Forschung, Pflege und Reparatur, Handwerk und Rationalisierung, Einheitsschuh und Passform, Roh- und Ersatzstoffe. Die Politik kommt maßgeblich ins Spiel, indem im Zuge der nationalsozialistischen Autarkiepolitik ab 1936 in vielen Bereichen die Produktion auf Kunststoffe umgestellt wurde, so auch beim Schuh: „Am Ende des Zweiten Weltkrieges bestand in Deutschland der industriell gefertigte Straßenschuh statt aus Leder ganz aus Kunststoffen. Er war nicht mehr genäht, sondern geklebt konstruiert.“ (S. 757)

Üblicherweise wird der Schuh in der Designliteratur ja vor allem als Objekt der Mode, Begierde und Symbolik gesehen. Anne Sudrow analysiert vielmehr in Gegenrichtung zum Schönen und Symbolischen, sie verweigert sich den tiefen Oberflächen der Mode. Dennoch spielt die Mode in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht eine wichtige Rolle, denn die modischen Wechsel führten beim Damenschuh bis 1945 zu einer doppelt so hohen Absatzmenge – übrigens in allen Vergleichsländern. Zudem war und ist der Damenschuh als „gendered object“ in Konstruktion und Herstellung verschieden vom Herrenschuh.

Eine der zahlreichen allgemeinen Fragestellungen des Buches betrifft das Verhältnis von Nationalsozialismus, Moderne und Design. In den Abhandlungen der 1950/60er Jahre standen überwiegend die Brüche zwischen der Weimarer Moderne und dem Nationalsozialismus im Vordergrund, während in der aktuellen Literatur die Kontinuitäten betont werden. Nun kommt es immer darauf an, was man vergleicht: Schuhe hat man vor, in und nach der Zeit des Nationalsozialismus getragen. In der immer noch lesenswerten Abhandlung zur Kultur der Weimarer Republik und ihrem Ende schrieb Peter Gay zur vergleichenden Geschichtsschreibung: “Der Historiker … darf die Elemente, die zwei Kulturen – oder zwei Epochen – gemeinsam haben, so wenig vernachlässigen wie die, die sie voneinander unterscheiden.“ („Die Republik der Außenseiter“, 1970).

Anne Sudrow kommt im Vergleich mit dem britischen und amerikanischen Schuh insbesondere aufgrund der einschneidenden Folgen der deutschen Autarkiepolitik zu dem Ergebnis, dass “die Zeit des Nationalsozialismus als wichtige Umbruchsphase und Periode grundlegender Neuerungen auf dem Gebiet der Schuhtechnik eingeordnet werden” muss (S. 763f.). Da sie die ästhetische Seite der Modellgeschichte des Schuhs weitgehend ausspart, bleibt offen, wie sich dieser Umbruch modisch ausgewirkt hat. Die Schwerpunkte der Darstellung liegen eindeutig in der Technik- und Wirtschaftsgeschichte, die alle Bereiche zu erfassen scheint. Bemerkenswert ist das Kapitel über die Gebrauchswertforschung auf der „Schuhprüfstrecke“ im Konzentrationslager Sachsenhausen, in dem KZ-Häftlinge als Versuchskonsumenten eingesetzt wurden. Fazit: Methodisch orientiert an der Produktlinienanalyse ist mit dem „Schuh im Nationalsozialismus“ ein herausragender Modellfall der Produktgeschichte entstanden, der – so ist zu hoffen – insgesamt die technik- und wirtschaftshistorische Designgeschichtsschreibung in Deutschland belebt.

Bei den Recherchen zum Schuh stieß Anne Sudrow in England auf eine Untersuchung mit dem Titel „Design Investigation in Selected German Consumer Goods Industries“, die 1947 als Bericht des Britischen Geheimdienstes erschienen war. Niemand erinnerte sich an diese Untersuchung, daher ist alleine der Fund eine Sensation! Anne Sudrow hat die Berichte in der Originalfassung mit einer ausführlichen Einleitung versehen unter dem Titel „Geheimreport Deutsches Design“ 2012 in einer Reihe des Deutschen Museums in München herausgegeben, erneut tadellos lektoriert. Die Berichte bieten bisher unbekannte Einblicke in die Funktionsweise der Designindustrien der frühesten Nachkriegszeit in Deutschland, konzentriert auf die englischen und amerikanischen Besatzungsgebiete.

Eine kritische Bemerkung zur Titelei kann zugleich in die sehr spezielle historische Situation einführen. Die „Untersuchung zum Design in ausgewählten deutschen Konsumgüterindustrien“, wie der Titel übersetzt lauten könnte, ist nämlich kein „Geheimreport“, sondern ein in kleiner Auflage als Typoskript vervielfältigter Bericht, der für damals 14 Shilling vom britischen Militärgeheimdienst BIOS (British Intelligence Objectives Sub-Committee) bezogen werden konnte. Die Untersuchung wurde 1946 vom Council of Industrial Design initiiert, das auch die einzelnen Berichte zusammenfasste.

Daher ist auch die Autorenangabe problematisch. Nikolaus Pevsner, der sowohl in England wie in Deutschland als herausragende Persönlichkeit der Architektur- und Designgeschichte bekannt ist, wird als einziger von mehreren Autoren der Studie genannt. Pevsner fungierte jedoch nur als der – allerdings für die „empirische Designforschung“ maßgebliche – Untersuchungsleiter eines der vier investigierenden Teams bestehend aus insgesamt 9 Personen.

Die vier Teams waren in der Zeit zwischen Juli und Dezember 1946 in einem vom Krieg verwüsteten Land unterwegs, der Aufbau hatte gerade begonnen. Ziemlich eigenartig erscheint in dieser Situation eine Befragung zum Thema „Design“ in der Konsumgüterindustrie. Anne Sudrow übernimmt aus der historischen Forschung die Einschätzung der Befragungen als „intellektuelle“ oder „versteckte Reparationen“, denn die Briten wollten mehr über die deutschen Designleistungen wissen. Heute würde man das als Wirtschaftsspionage bezeichnen. Die befragten Firmen konnten sich wohl kaum verweigern, sie zeigten sich im Gegenteil sehr interessiert – auch, um die problematische NS-Vergangenheit aus ihrer eigenen Sicht darstellen zu können. Daher darf man die Aussagen keinesfalls unkritisch übernehmen.

In den Berichten werden einige Gründe für die hohe Wertschätzung des Designs in Deutschland genannt, die noch heute zu denken geben. Demnach habe der frühe Erfolg der Moderne, die relative Eigenständigkeit der Regionen und die gute Ausbildungssituation eine insgesamt positive Haltung zur modernen Gestaltung befördert – im Gegensatz zur britischen Einstellung, die eher traditionell orientiert sei. Verwundert notierte man auch die hohen Entwerferlizenzen in Deutschland -, ein deutlicher Hinweis auf die beginnende Professionalisierung des Designs. Der ehemalige Bauhäusler Georg Muche und der zunächst als nationalsozialistisch „belastet“, dann nur als „Mitläufer“ eingestufte Adolf Schneck wurden sogar anschließend in den Jahren 1947/48 nach England und Schottland zu Informationsgesprächen eingeladen.

Insgesamt enthalten die ursprünglich 155 Seiten Berichte von insgesamt 92 Firmen in verschiedenen Branchen und von 22 Ausbildungsstätten. Einige Details sind unspezifisch oder nicht repräsentativ. Wilhelm Wagenfeld und Hermann Gretsch werden gar nicht erwähnt. Leider sind die von den Investigatoren mitgebrachten und ursprünglich dem Bericht beigefügten Materialmuster, Kataloge und Werbebroschüren bislang unauffindbar. Dennoch bietet die „Design Investigation“ nirgendwo sonst dokumentierte Informationen und somit eine für die Designgeschichte unverzichtbare Quelle. Etwa bei der vom Ausland bewunderten Durchsetzung von Kunststoffen für den alltäglichen Gebrauch (Sektion „Plastics“), zu der u. a. die Leiter der Verkaufsstelle der Dynamit Nobel AG in Köln-Troisdorf befragt wurden, des größten deutschen Produzenten von Kunststoffen. Die wieder sehr kompetent und anschaulich geschriebenen Erläuterungen zur Entstehung und zum Umfeld der Untersuchung ergänzen den Fund und machen die Publikation zu einem wertvollen Dokument und einem wunderbaren Kleinod der Designgeschichte. 

Nikolaus Pevsner u. a. Geheimreport Deutsches Design Deutsche Konsumgüter im Visier des britischen Council of Industrial Design (1946) Englischer Originaltext mit einer Einleitung herausgegeben von Anne Sudrow Reihe: Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte – Neue Folge (Hg. vom Deutschen Museum); Bd. 28 € 29,90 (D) | € 30,80 (A) | SFr 40,00 336 S., 33 Abb., geb., Schutzumschlag, 14,0 x 22,2 ISBN: 978-3-8353-1018-6 (2012) 

(Siegfried Gronert. Diese Rezension ist erschienen in: design report 6/2013, S. 62f. und 1/2014, S. 62f.)