Nikolaus Pevsner u. a.: Geheimreport Deutsches Design

Deutsche Konsumgüter im Visier des britischen Council of Industrial Design (1946)
Englischer Originaltext mit einer Einleitung herausgegeben von Anne Sudrow

Pevsner und der britische Geheimdienst

Rezension von Siegfried Gronert

Eine kritische Bemerkung zur Titelei kann zugleich in die sehr spezielle historische Situation einführen. Die „Untersuchung zum Design in ausgewählten deutschen Konsumgüterindustrien“, wie der Titel übersetzt lauten könnte, ist nämlich kein „Geheimreport“, sondern ein in kleiner Auflage als Typoskript vervielfältigter Bericht, der für damals 14 Shilling vom britischen Militärgeheimdienst BIOS (British Intelligence Objectives Sub-Committee) bezogen werden konnte. Die Untersuchung wurde 1946 vom Council of Industrial Design initiiert, das auch die einzelnen Berichte zusammenfasste.

Daher ist auch die Autorenangabe problematisch. Nikolaus Pevsner, der sowohl in England wie in Deutschland als herausragende Persönlichkeit der Architektur- und Designgeschichte bekannt ist, wird als einziger von mehreren Autoren der Studie genannt. Pevsner fungierte jedoch nur als der – allerdings für die „empirische Designforschung“ maßgebliche – Untersuchungsleiter eines der vier investigierenden Teams bestehend aus insgesamt 9 Personen.

Die vier Teams waren in der Zeit zwischen Juli und Dezember 1946 in einem vom Krieg verwüsteten Land unterwegs, der Aufbau hatte gerade begonnen. Ziemlich eigenartig erscheint in dieser Situation eine Befragung zum Thema „Design“ in der Konsumgüterindustrie. Anne Sudrow übernimmt aus der historischen Forschung die Einschätzung der Befragungen als „intellektuelle“ oder „versteckte Reparationen“, denn die Briten wollten mehr über die deutschen Designleistungen wissen. Heute würde man das als Wirtschaftsspionage bezeichnen. Die befragten Firmen konnten sich wohl kaum verweigern, sie zeigten sich im Gegenteil sehr interessiert – auch, um die problematische NS-Vergangenheit aus ihrer eigenen Sicht darstellen zu können. Daher darf man die Aussagen keinesfalls unkritisch übernehmen.

In den Berichten werden einige Gründe für die hohe Wertschätzung des Designs in Deutschland genannt, die noch heute zu denken geben. Demnach habe der frühe Erfolg der Moderne, die relative Eigenständigkeit der Regionen und die gute Ausbildungssituation eine insgesamt positive Haltung zur modernen Gestaltung befördert – im Gegensatz zur britischen Einstellung, die eher traditionell orientiert sei. Verwundert notierte man auch die hohen Entwerferlizenzen in Deutschland -, ein deutlicher Hinweis auf die beginnende Professionalisierung des Designs. Der ehemalige Bauhäusler Georg Muche und der zunächst als nationalsozialistisch „belastet“, dann nur als „Mitläufer“ eingestufte Adolf Schneck wurden sogar anschließend in den Jahren 1947/48 nach England und Schottland zu Informationsgesprächen eingeladen.

Insgesamt enthalten die ursprünglich 155 Seiten Berichte von insgesamt 92 Firmen in verschiedenen Branchen und von 22 Ausbildungsstätten. Einige Details sind unspezifisch oder nicht repräsentativ. Wilhelm Wagenfeld und Hermann Gretsch werden gar nicht erwähnt. Leider sind die von den Investigatoren mitgebrachten und ursprünglich dem Bericht beigefügten Materialmuster, Kataloge und Werbebroschüren bislang unauffindbar. Dennoch bietet die „Design Investigation“ nirgendwo sonst dokumentierte Informationen und somit eine für die Designgeschichte unverzichtbare Quelle. Etwa bei der vom Ausland bewunderten Durchsetzung von Kunststoffen für den alltäglichen Gebrauch (Sektion „Plastics“), zu der u. a. die Leiter der Verkaufsstelle der Dynamit Nobel AG in Köln-Troisdorf befragt wurden, des größten deutschen Produzenten von Kunststoffen. Die wieder sehr kompetent und anschaulich geschriebenen Erläuterungen zur Entstehung und zum Umfeld der Untersuchung ergänzen den Fund und machen die Publikation zu einem wertvollen Dokument und einem wunderbaren Kleinod der Designgeschichte. 

Nikolaus Pevsner u. a. Geheimreport Deutsches Design Deutsche Konsumgüter im Visier des britischen Council of Industrial Design (1946) Englischer Originaltext mit einer Einleitung herausgegeben von Anne Sudrow Reihe: Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte – Neue Folge (Hg. vom Deutschen Museum); Bd. 28 € 29,90 (D) | € 30,80 (A) | SFr 40,00 336 S., 33 Abb., geb., Schutzumschlag, 14,0 x 22,2 ISBN: 978-3-8353-1018-6 (2012)