Sara de Bondt über belgisches Grafikdesign – Rezension von Gerda Breuer
Würde man eine weltweite geographische Kartierung der Design-Historiographie vornehmen, käme Belgien vermutlich gar nicht vor. Das kleine Land in Europa ist zwar mit der Architektur und den Innenräumen des Jugendstils, dem Art nouveau, eng verbunden und dann mit Art Deco. Prächtige Privathäuser und ganze Straßenzüge sind in den Stilen gehalten und heute Touristenattraktionen im Norden der Nation, den prosperierenden Städten Antwerpen, Gent und Brüssel. Z.T. sind diese stadträumlichen Schätze aber auch durch den Zusammenbruch der Kohle- und Stahlindustrie in der Wallonie in kaum nachvollziehbarem Maße vernachlässigt, wie das in Lüttich der Fall ist. Namen wie Victor Horta und Henry van de Velde sind geläufig. Van de Veldes frühe Werbung für Tropon und seine Gestaltung von Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ 1908 sind in die Geschichte des Grafikdesigns eingegangen. Aber diese Arbeiten hat der Wanderer zwischen den Welten in Deutschland ausgeführt.
Städte wie Antwerpen wiederum haben sich in den letzten Dekaden einen Namen gemacht. Modedesigner der Königlichen Hochschule der Schönen Künste (flämisch: Koninklijke Academie voor Schone Kunsten) wie Dries van Noten und fünf weitere Kollegen, die „Antwerp Six“: Dirk Bikkembergs, Ann Demeulemeester, Walter Van Beirendonck, Dirk Van Saene und Marina Yee, zählen zu den aufregendsten Modedesigner*innen ihrer Zeit. Ansonsten sind nur wenige Designer*innen in Deutschland bekannt mit Ausnahme von Maarten Van Severen, der zu den renommiertesten Innenarchitekten und Möbeldesignern des Landes avancierte. In den 1990er Jahren begann seine Zusammenarbeit mit Vitra, die bis zu seinem Tod 2005 fortgeführt wurde. Aber darüberhinaus? Und Grafikdesign?
Und wenn es Entdeckungen gibt, kann man überhaupt von einer nationalen Signatur von Design sprechen? So, wie man vom Schweizer Design, dem Niederländischen, dem Britischen Design spricht? Oder ist nicht eher der geographische Ort gemeint mit einer großen Gemengelage heterogener Elemente? Die Herausgeberin des nun vorliegenden Sammelbands „Off the Grids“, Sara de Bondt, zitiert infolgedessen auch den ungarischen Grafikdesigner Charles Rohonyi, der in Brüssel lebte, und in den 1970er Jahren formulierte:
„Belgien ist ohne Zweifel dasjenige Land in Europa mit der dichtesten Zahl an Ausländern pro Quadratmeile. Diese ‚europäische Situation‘ hat Belgien zu einem Land gleichsam ‚ohne grafische Grenzen‘ gemacht. Da gibt es keinen typischen Belgischen Stil.“
Der Titel der vorliegenden Publikation Off the Grid läßt denn auch darauf schließen, dass sich die Herausgeberin der schwierigen Ausgangslage bewußt ist. Entsprechend spricht sie im Untertitel auch nicht von History, sondern von Histories of Belgian graphic design. Das läßt auf ein Panorama unterschiedlicher Ansätze deuten läßt, die in einer Nation versammelt sind.
Sara de Bondt
Sara de Bondt ist eine belgische Grafikdesignerin. Sie besuchte die Sint Lukas Schule in Brüssel und dann die Jan van Eyck Academy in Maastricht, Niederlande. Anschließend ging sie nach London, arbeitet dort nach wie vor als Grafikdesignerin und heiratete den Kunsthistoriker und Kurator Antony Hudek, mit dem sie zusammen seit 2008 den Verlag Occasional Papers leitet. Hier wurde Off the Grid herausgegeben. Der Verlag war eine Reaktion der beiden auf das mainstream publishing, bei dem ihrer Ansicht nach nur das Erfolgreiche und die Stars immer und immer wieder veröffentlicht werden. Entsprechend wenden sie sich Designer*innen zu, die aus verschiedenen Gründen fast in Vergessenheit geraten sind wie Ken Briggs, Dom Sylvester Houédard oder Adrian Henri – oft sind es Designer*innen, die die Grenzen zwischen Kunst, Design und Literatur oder Theater nicht beachteten. Ein Schwerpunkt des Verlages sind auch Auseinandersetzungen mit dem Kanon der Geschichtsschreibung, wie der Sammelband von Aufsätzen renommierter Designhistoriker*innen Graphic Design: History in the Writing 1983-2011 deutlich macht. Hier, wie im vorliegenden Band, geht es, wie zu vermuten ist, nicht um eine systematische Aufarbeitung der Geschichte, sondern um Ansätze, die die traditionellen Narrative in Frage stellen.
2019 kuratierte Sara de Bondt schon einmal eine Ausstellung mit dem Titel „Off the Grid. Belgian Graphic Design from the 1960s and 1970s“ im Design Museum Gent. Die Ausstellung war ein Ertrag ihrer PhD über belgisches Design. Diesmal erweitert sie den Fokus von den 1950er zu den 1980er Jahren. Der Launch des Buches wurde am 22. Februar 2022 im Design Museum Gent gefeiert.
Die Aufsätze
Das Kompendium greift, worauf schon hingewiesen wurde, Aspekte der belgischen Designgeschichte auf. Es sind gleichwohl signifikante Beispiele, und insbesondere solche, die die Position von Sara de Bondt und vieler heutiger Designhistorikerinnen deutlich machen.
Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, es gehe dann doch um die Definition eines Nationalstils. Denn kein geringerer als der britische Grafikdesigner Richard Hollis, der ein Standardwerk über Schweizer Design geschrieben hat, ist Autor des Aufsatzbandes. Er hat 2019 ein Buch über Henry van de Velde in Occasional Papers herausgegeben und kann deshalb über van de Veldes wenig bekannte Gründungsinitiative Institut Supérieure des Arts Decoratifs (ISAD) in La Cambre in Brüssel, ab 1926, berichten. Wenngleich das Institut nicht den Erfolg hatte wie die Arbeit des belgischen Designers in Weimar, die das Bauhaus vorbereitete, hat es doch mit seinen zwei Abteilungen für Grafikdesign wichtige Designer*innen hervorgebracht. La Cambre – die Designschule – zieht sich wie ein roter Faden durch sehr viele der im Buch beschriebenen Biografien.
Darüberhinaus gibt es Ereignisse in der belgischen Geschichte, die ein ganzes Arsenal an grafischen Bildwelten und Typografien hervorgebracht haben. Das sind die belgischen Kolonien und die Weltausstellung 1958 in Brüssel. Und hier spürt man den durchaus radikalen politischen Zugang Sara de Bondts zur Geschichte des belgischen Grafikdesigns, der kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es um dessen affirmative Funktion geht. Das Decolonising Movement, das bei vielen der heutigen jungen Autor*innen in den Fokus rückt, aber vorwiegend aus den USA stammt, hat in Belgien eine besondere Note.
Denn die Rolle der belgischen Designer*innen zwischen 1885 und 1960, der Befreiung der belgischen Kolonie im Kongo und 1962 Ruanda-Urundi, zeigt, wie Grafikdesign die belgischen Unternehmen in Zusammenhang mit der Kolonisierung unterstützte, indem es die visuellen und typografischen tools zur Verfügung stellte, dies Aufgabe auszuführen. Selten erwähnt wird, dass auch berühmte belgische Designer wie Victor Horta, Paul Hankar und auch Henry van de Velde für die Propaganda-Maschine Leopolds des II. und später Albert I. arbeiteten. Anlass für ihre grafischen Arbeiten gaben den Designer*innen nicht zuletzt die vielen Weltausstellungen in Brüssel: 1897, 1910, 1935, 1958, Lüttich 1905, Gent 1913. Belgien legitimierte seine Präsenz im Kongo als Zivisisierungsmission mit ihren Investitionen in Transport, Gesundheit, Religion und Ausbildung, von Lotterielosen bis hin zur Werbung für Schokolade von Côte d’Or. Wer heute über Belgiens so beliebte Flohmärkte geht oder Brocantes besucht, weiß, wie tief die Kolonialpropaganda in das Alltagsleben Belgiens eingedrungen war.
Sara de Bondt beschreibt diese Zusammenhänge sehr kritisch und in schonungsloser Offenlegung, wozu solche Kapitelüberschriften wie „Belgian graphique design in the service of institutionalised racism“ S. 46 zählen. Sie verweist aber auch darauf, dass Grafikdesign ein Werkzeug in der Befreiungsbewegung im Kongo unter Patrice Lumumba war, beispielsweise bei den Zeitschriften L’independance und Uhuru.
Die Bedeutung des Design auf der Expo 58 in Brüssel wird im Aufsatz nur gestreift. Belgien hatte auch hier einen Kongo Fauna Pavillon. Er verstärkte die rassistischen Stereotypen zu einem Zeitpunkt, zu dem die Unabhängigkeit der Kolonie 1960 bereits deutlich spürbar war. Zwar besteht die Unabhängigkeit der belgischen Kolonien nun seit mehr als 60 Jahren, dennoch – und darauf weist de Bondt mit Entschiedenheit hin – hat sich die Dekolonisierung im Bewusstsein der Belgier noch lange nicht durchgesetzt. Zuletzt geriet durch die Neu-Konzeptionierung des Africa-Museum in Tervuren das dunkle Kapitel der belgischen Geschichte, an dem Design einen großen Anteil hatte, unter ein Brennglas. Am 30 Juni 2020 wurde die Statue König Leopold II, der Symbolfigur der Kolonialzeit, vom Südpark in Gent entfernt.
Es sind nicht die Highlights, die Meilensteine und Stars der belgischen Designgeschichte, die erzählt werden, sondern bisher vernachlässigte Aspekte. Das zeigt sich auch bei Katarina Serulus, die zwar bekannt ist für ihre Abhandlung über belgische Designgeschichte, hier aber über Grafikdesign und belgische Club Culture zwischen 1970 und 2000 schreibt. In Deutschland hatte sie darüber bereits 2018 einen Aufsatz im Katalog der Ausstellung: „Night Fever. Design und Clubkultur 1960 – heute“ im VITRA Design Museum veröffentlicht. Die Schau war eine Co-Produktion mit dem Design Museum Brüssel.
Es ist von großem Vorteil, dass die meisten Autor*innen des Bandes von Hause aus Grafikdesigner*innen sind. Fast in jedem ihrer Aufsätze wird sehr genau auf technologische Produktionsvoraussetzungen, auf die Bedeutung der Wahl von Typografien, auf den Dialog zwischen den Designer*innen beispielsweise bei der Wahl von Handschriften oder dem Unterschied wischen Piktogrammen, Ideogrammen, Monogrammen, Logotypes, Emblemen und Symbolen eingegangen. Von faszinierender Genauigkeit ist das bei dem Typeface-Designer Joe de Baerdemaeker der Fall, der über immense Kenntnisse von Typografien auch vieler außereuropäischer Länder verfügt. Er spricht tatsächlich von einer Typo Belgiëque (S. 24-34), die sich aus vielen Fragmenten authentischer und traditioneller, aus den Regionen Belgiens stammender Typografien, entwickelt hat – bei aller Vielfalt. Auch Katrin van Haute beschreibt solche Entwicklungsprozesse, besonders eindrucksvoll an der Auseinandersetzung von konstruktivistischen Tendenzen, die von der europäischen Moderne als international und universal bevorzugt wurden, und eigenständigen typografischen Ansätzen in Belgien. Sie sind Ausdruck der nationalen Konflikte der Vlaamse Beweging, der Unabhängigkeitsbewegung der Flamen (S. 8-24).
Jeder der 11 Beiträge zu Persönlichkeiten der belgischen Designgeschichte ist sehr aufschlussreich und vermittelt ein Bild von der Vielfalt der designerischen Ansätze im Land.
Die Nähe zur Kunst zeigt sich in den vielen Einflüssen herausragender belgischer Künstler wie Marcel Broodthaers, ganz besonders bei den Designern Corneille Hannoset und Constantin Brodzki. Das Poster Design von Marleen Deceukelier, zusammen mit Sony Van Hoecke, für die documenta IX (1992), die Jan Hoet, der Direktor des Städtischen Museums für Aktuelle Kunst in Gent, kuratierte, hat geradezu ikonischen Wert. Das Genter Museum beherbergt eine der bedeutendsten Sammlungen zeitgenössischer Kunst in Flandern, u.a. nationale und internationale Meisterwerke der Künstlergruppe Cobra, Skulpturen von Jan Fabre und immer wieder von dem großen Anreger Marcel Broodthaers. Michel Olaf, der Les Ateliers du Marais in Brüssel 1948 mit Pierre Alechinsky gründete, verweist auf das künstlerisch orientierte Designerzentrum, in dem Künstler wie Jan Cox, Luca de Heusch, Reinhold d’Hasse, Olivier Strebende und Asger Jorn häufig Gäste waren.
Beim Lesen der Biografien kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Belgien dann doch einen kleinen Kosmos darstellt von Künstler- und Designerkreisen, die sich gegenseitig anregten. Vieles wirkt vergleichsweise dicht auf Belgien bezogen und nur selten ist der Einfluss von anderen Ländern zu spüren. Das ist bei Jean-Jacques Stiefenhofer der Fall, der an der Ulmer Hochschule für Gestaltung studierte. (Deutsche Augen erstaunt es, dass die Schule in einer Fußnote erklärt werden muss. S. 254) Sicher, der Einfluss von Bruno Munari, Josef Albers, Sol Lewitt, Dieter Rot und Vasarely ist spürbar in den späten 1950er und 60er Jahren, dennoch entwickelte sich viel Eigenständiges.
Der Schwerpunkt der Auswahl liegt im vorliegenden Buch auf dem Editorial- und Ausstellungsdesign, dem Poster- und Corporate Design, weniger auf der Werbung. Das hat natürlich damit zu tun, dass sich Design in diesem Kontext weniger als Auftragnehmer betrachtete und betrachten wollte, sondern seine gestaltende soziale und politische Kraft für sich in Anspruch nahm. In gewisser Weise klammert dieser Ansatz aber auch das ausgesprochen reizvolle Werbedesign, die Verpackungen und Akzidenzdrucke der belgischen Firmen, aus, die den Alltag der belgischen Nation in den wirtschaftlich prosperierenden Zeiten prägten.
Es ist insbesondere Sara de Bondt, die ausführlich die fehlende staatliche Unterstützung Belgiens für eine belgische Designgeschichte beklagt. Sammlungen von Grafikdesign sind nicht gebündelt an einem Ort vorhanden, sondern noch viele in privater Hand. Es ist für sie einer der Gründe, weshalb es so wenig Informationen über belgisches Design gibt. Hinzu kommt der Mangel an entsprechenden Archiven; eine eher ignorante Ausstellungspolitik; Defizite in der Ausbildungsstruktur; die föderale Struktur Belgiens; geringe finanzielle staatliche Unterstützung für öffentliche und private Sammlungen; eine fehlende Fachpresse und nach wie vor die Hierarchie zwischen liberalen und angewandten Künsten; auch das Problem der Fragmentierung in einen flämischen und einen französisch-sprechenden Teil der Nation.
Umso erfreulicher sind die vielen neuen Ansätze der jungen Generation. Nicht zuletzt zählt dazu The Belgian Institute Graphic Design (2020), das einige Beiträge zum vorliegenden Band beisteuert. Es wurde 2020 als Plattform für belgisches Grafikdesign in Belgien unter der Leitung von Pia Jacques und Leroy Meyer gegründet, kuratiert Ausstellungen, führt Forschung über die Geschichte von belgischem Grafikdesign durch und vieles mehr. Auch das Design Museum Gent führte 2019–2020 eine Serie von Vorträgen durch unter dem Titel „This is…“, aus der die Transkript der Video-Interviews mit Grafikdesigner*innen in ihren Studios stammen, die den Band ergänzen und die Sicht heutiger belgischer Design*innen zu Wort kommen lassen.
Das Buch ist ein Gewinn für jede und jeden, die an Grafikdesign interessiert sind, nicht zuletzt auch deshalb, weil es reich illustriert ist mit viel, z.T. bislang unveröffentlichtem Bildmaterial.