Zur Publikation „Stahlrohrmöbelrevolution!“ von Torsten Bröhan, Christoph Janik und Susanne Engelhard – Eine Rezension von Gerda Breuer
Es scheint jede und jeder zu wissen, dass der europäische Osten eine ungeheure Wirkung auf das moderne Design der 1920er Jahre im Westen insgesamt und insbesondere auf das Bauhaus hatte, dass er der eigentliche Pionier war. Die großen Namen der modernen Gestaltung sind mit ihm verbunden: Rodschenko, Tatlin, El Lissitzky, Moholy Nagy u.v.a.m. Doch gräbt man etwas tiefer unter die Oberfläche, tauchen immer mehr imposante Erscheinungen auf. Berlin hat in letzter Zeit gleich dreimal auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht: Claudia Banz, die Kuratorin des Kunstgewerbemuseums, mit ihrer Schau „Retrotopia Design for Sozialist Spaces“ in der Zeit des Kalten Krieges, die voller kaum je vorher im Westen gesehenen Materials war; die Ausstellung „Die tschechische Avantgarde“, die zur Zeit im Bröhan Museum läuft, und die neue Veröffentlichung der Bröhan Stiftung: „Stahlrohrrevolution! Kálmán Lengyel, Marcel Breuer, Anton Lorenz und das Neue Möbel“, erschienen bei arnoldsche Art Publishers und der Bröhan Design Foundation. Um sie geht es im folgenden.
Der Titel des Buches läßt auf den ersten Blick eine neue Publikation über Stahlrohrmöbel vermuten, in der das Möbel selbst im Vordergrund steht. Bei einem Sammler wie Torsten Bröhan, für den der Ankauf von Stahlrohrmöbeln samt Originaldokumenten und Fotografien 2015 in einem Berliner Antiquariat der Anlass für die Publikation war, ist das zu vermuten. Wobei man sich fragt, ob nicht ausreichend über Stahlrohrmöbel gearbeitet wurde, die wie kein anderes Objekt die gestalterische Avantgarde repräsentieren. Denn es sind über das ikonische Möbelgenre bereits mehrere Publikationen erschienen. Alexander Vegesacks „Deutsche Stahlrohrmöbel. 650 Modelle aus Katalogen von 1927 – 1958 “ von 1986, Werner Möller/Otakar Macel „Ein Stuhl macht Geschichte“ von 1992, die Untersuchung von Magdalena Droste/Manfred Ludewig über Marcel Breuers Stahlrohrmöbel von 1994 sowie „Sitz-Gelegenheiten. Bugholz- und Stahlrohrmöbel von Thonet“, ein Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg von Claus Pese und Ursula Peters 1989. Auch die weniger bekannten tschechischen Stahlrohrmöbel wurden von Michael Bosewitz 2019 und 2020 behandelt. Die Liste ließe sich erheblich erweitern. Nun wieder ein so viel gescholtener Beitrag zur Objektlastigkeit der Designgeschichtsschreibung?
Und mit dem Namen Marcel Breuer, der als einer der drei behandelten Designer im Untertitel genannt ist, assoziiert man augenblicklich das Bauhaus.
Marcel Breuer war es im Alter von nur 23 Jahren gelungen, Stahlrohrmöbel zu entwerfen – etwa den Wassily-Sessel, Hocker und einige Freischwinger –, die geradezu symbolhaft das Bauhaus repräsentieren und, unendlich oft kopiert, für die moderne Epoche beispielhaft stehen. Weitaus weniger jedoch erfahren wir über seine ungarischen Wurzeln und die Einflüsse eines Netzes von Designern am Bauhaus, die alle aus Ungarn stammen. Insgesamt 19 Studierende aus Ungarn am Weimarer Bauhaus zählt Eva Bajkay-Rosch und beschreibt deren Bedeutung für die Schule. Neben Breuer und Otti Berger sowie dem vielseitigen Talent Moholy-Nagy sind darunter Kunstkritiker wie Kállai, Architekten wie Forbát, Maler, Bildhauer und Musiker wie Neugeboren, dann Molnar, Pap, Weininger, Téry-Adler und viele mehr. Wieder eine Bauhausgeschichte?
Doch im Mittelpunkt der Publikation steht, neben den beiden gebürtigen Ungarn Breuer und Anton Lorenz, eine andere Person: Kálmán Lengyel, am 18.7.1900 in Szeged, Ungarn, geboren.
Lengyel ist den meisten bekannt als der Partner der gemeinsam mit Marcel Breuer 1927 in Berlin gegründeten Stahlrohrmöbel-Fabrikation Standard-Möbel Lengyel & Co. OHG. Die Produktionsstätten waren zunächst in Dessau und dann später in Berlin. Auch ist bekannt, dass Breuer sich entschied, die Verwertungsrechte an den von ihm entwickelten Stahlrohrmöbeln, die heute zu den erstrangigen Möbelklassikern zählen, nicht dem Bauhaus zu überlassen, sondern von Standard Möbel selbst wahrnehmen zu lassen – eine Entscheidung, die das Bauhaus sehr bedauert hat. Der Name des weiteren Ungarn, Anton Lorenz, kommt meist dann ins Spiel, wenn er als Unternehmer in Berlin für die Herstellung und den Vertrieb in der Standard Möbel GmbH tätig war. Lorenz wurde zudem 1928 Direktor der von ihm gegründeten Firma Desta, ein Jahr später übernahm Thonet die Firma Standard Möbel. 1932 übertrug dann Lorenz die Rechte des Desta Sortiments an Thonet und wurde dort Leiter der Abteilung für gewerblichen Rechtsschutz. Und so ist er wie Lengyel eine Person, die durch ihren Umgang mit Patenten und Unternehmensgründungen weltweit zum Erfolg des Stahlrohrmöbel beitrug. Das Vitra Design Museum, das einen Nachlass von Anton Lorenz besitzt, hat bereits 2019 in seinem Haus auf den Gestalter aufmerksam gemacht. Aber insgesamt lassen die Kenntnisse über den weiterhin in Berlin, Paris und Budapest lebenden Lengyel erheblich nach.
Hier nun bringt die Publikation Licht in die unbekannte Lebens- und Werkgeschichte des Designers, Architekten und Unternehmers. Und nicht nur das. Im Umkreis von Kálmán Lengyel sind dabei, neben Breuer und Lorenz, weitere Personen von Interesse: Lengyels Ehefrau Hajnal Lengyel-Pataky, die als professionelle Fotografin Werbematerial für die Möbelunternehmen gestaltete, und Lengyels Bruder Laszlo, der ebenfalls als Architekt und Designer arbeitete. Im Anhang beschreibt Susanne Engelhard die Biographien der Akteur*innen.
Die Designer werden nicht nur in ihrer Rolle als Schlüsselfiguren für die Entwicklung des modernen Stahlrohrmöbels ausführlich beschrieben sowie insbesondere die Entwurfsprozesse, die Unternehmensgründungen und die Vertriebsnetze. Es geht auch um deren Lebensgeschichte in Deutschland, Frankreich und wiederum Ungarn. Die Bio- und Monographie Lengyels verdankt sich der enorm detail- und kenntnisreichen Recherche von Susanne Engelhard und Christoph Janik, beide Mitarbeiter der Bröhan Design Foundation.
Hinzu kommen einzelne Gebiete der Monographie wie Lengyels Aufenthalt in Paris (Engelhard) und die letzte Schaffensphase des Gestalters in Ungarn, die die Kuratorin der Möbelabteilung am Budapester Kunstgewerbemuseum, Eva Horányi, beleuchtet. Darüberhinaus widmet sich Roland Jäger der Architektur des Gestalters und seinem Auftreten in Ausstellungen, während Susanne Graner, Sammlungsleiterin des Vitra Design Museums und Leiterin der dazugehörigen Restaurierungswerkstatt, sich mit Anton Lorenz und dem Möbel als Geschäftsmodell auseinandersetzt. Im Anhang folgt ein Verzeichnis der Möbel von Kálmán Lengyel. Alle Einzelaspekte werden umfassend vor dem Hintergrund des jeweiligen kulturellen Kontextes, insbesondere in den einzelnen Ländern, behandelt.
Hoch zu werten ist auch die Beschreibung des Lebens des jüdischen Designers unter dem Machtapparat des Nationalsozialismus. Christoph Janik widmet der letzten Lebensphase des Designers und seiner Familie eine umfangreiche Untersuchung. Kálmán Lengyel entstammte einer großbürgerlichen jüdischen Familie, die seit Generationen mit der Möbelfabrikation verbunden war. Ende 1944 wurde er von Ungarn nach Deutschland deportiert und starb 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Wie bei so vielen anderen Akteur*innen in der gestalterischen Moderne auch, macht diese Publikation auf den großen Beitrag jüdischer Designer*innen zur Moderne aufmerksam, die mit ihrer Emigration und Ermordung zur Tragik deutscher Kulturgeschichte wurde.
Die mit großer Akribie verfaßten Beiträge sind infolgedessen nicht nur ein designhistorisch wertvoller Beitrag, der nicht zuletzt die Unternehmens- und Vertriebsstrukturen der Stahlrohrmöbel-Produktion beleuchtet, sondern sie verfolgen zugleich die kulturgeschichtlichen Vernetzungen der Geschichte des Neuen Möbels. Man wünscht sich mehr Publikationen dieser historiographischen Tiefe.
Text: Gerda Breuer
Torsten Bröhan / Christoph Janik / Susanne Engelhard, Bröhan Design Foundation (Hg.)
STAHLROHRREVOLUTION! Kálmán Lengyel, Marcel Breuer, Anton Lorenz und das Neue Möbel
360 Seiten
21 x 27,4 cm, Hardcover, 700 Abb.
arnoldsche Art Publishers
Bestellmöglichkeit: >>arnoldsche.com