Buchcover "Al bies. Women Artists and Design in the spanish Avant-Garde."

Al bies.

Women Artists and Design in the spanish Avant-Garde. Eine Rezension von Gerda Breuer und Lin Ambite de los Santos.

Beim Mapping der tonangebenden Designnationen kommt Spanien meist zu kurz. Was die Kunst anbetrifft, hat das Land die größten (männlichen) Heroen vorzuweisen, von Goya über Velasquez, Picasso über Miro, Gaudi und Tapiès. Auch in der Architektur sind in den letzten Dekaden herausragende Protagonisten der spanischen Moderne hervorgetreten: Sert, Bofill, Calatrava beispielsweise. Oder in der Mode verbinden sich mit der Nation klangvolle Namen wie Rabanne oder Balenciaga. Aber im Produkt- oder Grafikdesign trifft man auf wenig Bekanntes. Erst recht tauchen keine Namen von Frauen auf.

Eine Ausstellung des Museo Nacional de Artes Decorativas in Madrid will deshalb Licht in das Dunkel der Geschichte von spanischen Designerinnen bringen. Dabei konzentriert sie sich auf die Zeit zwischen dem späten 19. Jahrhundert bis 1936, dem Beginn des spanischen Bürgerkriegs. Damit war das Ende der Republik besiegelt – sie hatte den Frauen viele Freiheiten verschafft – und es begann die Diktatur Francos, die bis 1975 dauerte.

Der Titel „Al bies“ bedeutet so viel wie „Über die Befangenheit“ oder „Zu den Vorurteilen“ und führt direkt in die Ausrichtung der Schau: sich nicht auf den Königsweg der Kunst- und Designgeschichte dieser Zeit zu konzentrieren, d.h. mehr oder weniger auf den Einfluß ausländischer Richtungen wie Arts and Crafts oder Bauhaus, sondern gestalterische Praktiken von Frauen aufzugreifen, die aus ihrer geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibung entstanden und deshalb vernachlässigt wurden, weil sie quer zu den Dogmen der Avantgarde standen.

Zu den bekannten Frauen zählen die surrealistische Künstlerin Victorina Durán (1899 – 1993), die auch Bühnen- und Kostümbildnerin war und diese Fächer an der Real Academia de Bellas Artes de San Fernando lehrte, sowie die gleichaltrige Matilde Calvo Rodero. Beide studierten und arbeiteten zusammen und stellten gemeinsam aus. Eine solche kreativ-inspirierende Freundschaft war zu dieser Zeit selten unter Frauen. Auch von der Plakatkünstlerin Manuela Ballester, der Wandmalerin Delhy Tejero und der Keramikerin Amelia Cuñat hat man schon gehört. Aber auch diese Frauen sind in Vergessenheit geraten.

Viele der ausgestellten Designerinnen sind deshalb unbekannt, weil sie Tätigkeiten ausübten, die eher zu den sogenannten „kleinen Künsten“ zählten: im Theater beispielsweise über die glanzvollen Bereiche Choreografie, Komposition und Schauspiel hinaus all diejenigen Arbeitsfelder, die sich hinter den Kulissen vollzogen: die Bühnen- und Kostümbildnerinnen und die Schneiderinnen. Wissen kann das Museum indes aus einer eigenen Sammlung ihrer gestalterischen Arbeiten gewinnen. Zudem vermittelt es Einblicke in die gesamten sozialen Rahmenbedingungen, unter denen Designerinnen in der angebenden Zeit arbeiteten.

Vieles stammt zunächst aus dem traditionell der weiblichen Rolle zugewiesenen häuslichen Bereich wie textile Handarbeiten, Inneneinrichtung und Mode. Wenngleich es vorwiegend Männer waren, die führende Positionen in der Modewelt einnahmen, konnten sich Frauen auch mit eigenen Marken etablieren, sich mit dem Ausland austauschen und moderne Mode entwerfen. Viele der Handarbeiten tragen eine nationale Signatur, ein Design, das heute Eingang in den Tourismus gefunden hat.
Auch wenn Frauen noch nicht die Erlaubnis hatten, eigene architektonische Entwürfe zu signieren, gelang es ihnen, Tourismushäuser, Paradores de Turismo, zu gestalten.

In eigenen Werkstätten, Netzwerken und Vereinen versuchten Frauen, hier wie in anderen europäischen Ländern auch, ihre Rechte zu stärken und in Räume einzudringen, die ihnen verschlossen waren.

In sechs thematischen Abteilungen weist die Schau auch auf weitere Tätigkeitsfelder hin wie das Bühnenbild, Buchbinderei und -illustration, Keramik, Innenarchitektur und Mode.

Die Ausstellung und der Katalog, für die die Kuratorinnen Idoia Murga Castro und Carmen Gaitán Salinas verantwortlich zeichnen, sollte international größere Aufmerksamkeit finden, weil sie sich in eine Tendenz eingliedert, Frauen aus Bereichen Aufmerksamkeit zu schenken, die nicht unbedingt an vorderster Front agierten. Sie betrachten Design als kollektiven Prozess, wie er mehr und mehr auch in der anglo-amerikanischen Designwissenschaft Beachtung findet.

Der Katalog ist im Internet vollständig einsehbar (>>> Link zum Katalog) – leider nur auf Spanisch. Und obwohl Spanisch eine Weltsprache ist, für viele Millionen Menschen eine Muttersprache und eine der wichtigsten Welthandelssprachen, dürfte die Tatsache, dass der Katalog – wie fast die gesamte angegebene Sekundärliteratur zum Thema – nur auf Spanisch vorliegt, die internationale, meist englischsprachige Rezeption beeinträchtigen. Eine Broschüre über die 6 Themenbereiche liegt allerdings auf Englisch vor.

Die Ausstellung kann noch bis zum 31. März 2024 im Nationalmuseum für dekorative Kunst in Madrid kostenlos besichtigt werden.