Produkte, Prozesse und Methoden.
Findungsprozesse des Ungesuchten – Improvisation im Design
Rezension von Thilo Schwer
Methoden des Designs stehen in vielen Bereichen der Wirtschaft aktuell hoch im Kurs. So werden unter dem Label »Design Thinking« Praktiken der Gestaltung zur Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, Dienste, und Services herangezogen. Alle wirtschaftlichen Bestrebungen, so scheint es, zielen nun auf Design, Innovation, Kundenorientierung und digitale Anwendungen. Die Vokabel »disruptiv« wird den Ergebnissen dabei vielfach reflexartig angeheftet, auch wenn nur an einer Optimierung betriebsinterner Serviceabläufe gearbeitet wurde.
Abseits dieser kritischen Darstellung ist das Interesse an der Disziplin vor dem Hintergrund grundlegender Veränderungen in vielen Geschäftsbereichen evident. Denn das Design zielt nicht ausschließlich auf die Lösung konkreter, gegenwärtiger Probleme. Vielmehr soll im Idealfall die Konstruktion von Lösungen gelingen, deren Problemstellungen erst in der Zukunft relevant werden. Aus diesem Grund müssen Gestaltungsprozesse mit unbestimmten Problembeschreibungen agieren. Offene Prozesse und variable Gliederungen in Teilprobleme haben sich bei der Handhabung der damit verbundenen Unsicherheiten vielfach bewährt. Kurze Iterationsschleifen, die Materialisierung von Zwischenergebnissen und eine sich im Verlauf anpassende Zieldefinition bilden dabei erfolgversprechende Heuristiken. So überrascht es nicht, dass einige Merkmale von »Design Thinking« oder »Agilen Methoden« genau durch solche Abläufe charakterisiert werden können.
Im Kontext dieser Entwicklungen ist die Dissertation „Design und Improvisation“ zu verorten, welche Annika Frye an der Hochschule für Gestaltung vorlegte und 2017 im Transcript Verlag publizierte. Die Autorin widmet sich darin intensiv dem spezifischen Vorgehen bei Entwurfsprozessen und insbesondere der Bedeutung der Improvisation im Kontext seriell produzierter Güter. Die so thematisierte Verknüpfung von arbeitsteiligen Planungs-, Gestaltungs- und Herstellungsprozessen mit einer situativ geprägten Gestaltungsmethode wirkt jedoch nur auf den ersten Blick paradox. Denn Design entstehe, wie Frye nachweist, stets aus einer neuen Kombination von Gegebenem, formiere sich anhand konkreter Materialien, Werkzeuge und vorangegangener Lösungen. In den Suchbewegungen des Entwurfs wirke die Improvisation über ihre Arbeit an Materialisierungen wie ein „Generator von Überraschungen“. Ein treffendes Bild, das von Hans-Jörg Rheinberger formuliert wurde, um im Experimentalsystem Impulse für Verschiebungen und zur Fortentwicklung der Systeme zu beschreiben (vgl. Frye 2017: 132f). In diesem Rahmen agiere die Improvisation nicht willkürlich oder sei mit dem Zufall gleichzusetzen. Im Gegenteil: Sie sei zielgerichtet und finde zwischen den Disziplinen Design, Handwerk und Konstruktion statt, wie Frye zusammenfasst (Frye 2017: 136).
Dabei ist der Begriff der Improvisation, wie auch die damit umrissene Praxis nur schwer zu fassen. Denn nicht nur im Theater, dem Tanz, oder in der Musik erscheine sie als etwas flüchtiges. Auch in den bildenden Künsten oder im Design konstituiere sie sich in jeder Situation neu, entziehe sich der direkten Beobachtung, sei ephemer. Um dieser Problematik methodisch zu begegnen, geht die Autorin retrospektiv vor:
„Daher habe ich die Improvisation der Designer rückblickend, und zwar anhand der Artefakte und Materialisierungen sowie anhand der Erzählungen der Designer rekonstruiert. […] Nicht die Improvisation als solche ist dann das Entscheidende, sondern der Rahmen, in dem sie geschieht.“ (Frye 2017: 126)
Aus diesem Blickwinkel werden unterschiedliche Entwurfsprozesse seziert: vom Sessel „Coat“ von Sebastian Herkner für Moroso, über die Entwicklung von Rasierapparaten bei der Firma Braun in Kronberg, ausgewählten Objekten aus dem „Neuen Deutschen Design“ bis hin zum „offenen Design“ von 3D-Druckern auf Basis des „RepRap Mendel“. Die Fallbeispiele dienen als Ausgangspunkte, um zentrale Diskurse des Designs und deren Bewertung von Improvisation zu diskutieren. Zusätzlich stellen Exkurse zu Methoden des Entwurfs die Bedeutung des Materiellen und offener, interpretierbarer Visualisierungen heraus.
Das komplexe Geflecht, das sich aus den verschiedenen Argumentationssträngen ergibt, regt bei der Lektüre zum Weiterdenken an. Gleichzeitig verleitet es stellenweise zu Fehlinterpretationen: So suchte ich aufgrund des aktuellen Entwurfsbeispiels von Sebastian Herkner im ersten Teil nach Verweisen zu Donald A. Schöns „The Reflective Practitioner“ oder dem „Design Methods Movement“. Dieses Themengebiet wird jedoch erst im folgenden Kapitel und in Verbindung mit einem anderen Beispiel behandelt. Trotzdem gelingen durch die übergreifenden Verknüpfungen viele erhellende Argumentationsstränge. So ist das Ringen Wilhelm Braun-Feldwegs um eine adäquate Formensprache für das industrielle Massenprodukt vor dem Hintergrund seiner handwerklich geprägten Wurzeln interessant nachzuvollziehen (vgl. Frye 2017: 126ff). Ebenso stellen die Ausführungen zu Hans-Jörg Rheinbergers Experimentalsystem ein konsistentes Modell dar, das die vielfältigen Aushandlungsprozesse, unterschiedlichen Akteure und die auf Improvisation basierenden Formentscheidungen abbildet (Frye 2017: 126ff).
Zusammenfassend stellt die Autorin dar, dass sich analoge und digitale Entwurfsprozesse heute zu verschmelzen scheinen. Damit erfolgt eine Synthese, nachdem sich ab Mitte der 1990er Jahre durch die Fortschritte bei Computern wie auch bei Software (Computer Aided Design, CAD) die Entwurfstätigkeit vielfach komplett in den digitalen Raum verlagerte. Generative Fertigungsverfahren – vor allem in Form der Ableitungen des RepRap-Open Source 3D-Druckers ab 2009 – wirkten in diesem Umfeld als Katalysator, um die immateriellen Designprozesse wieder mit der Arbeit an physischen Modellen zu verknüpfen. „Improvisation erscheint in diesem Setting nun als Motor von Neuem, und zwar in den Übergängen zwischen einem Plan und seiner Anwendung“ (Frye 2017: 232). Damit wird sie zum Scharnier zwischen einer übergeordneten Gestaltung von Netzwerken oder Beziehungen und den konkreten Formentscheidungen einzelner Akteure, die auch für offene, unabgeschlossene Entwicklungsprozesse von großer Bedeutung sind.
So bietet dieses Buch für viele interessante Zugänge: für Gestalter ebenso wie für Fachfremde, für historisch Interessierte ebenso wie für Innovationsgetriebene und Zukunft gestaltende. Es zeigt, dass aus der Disziplin heraus Wissen generiert werden kann, das für andere Disziplinen relevant und anschlussfähig ist.
Annika Frye: Design und Improvisation. Produkte, Prozesse und Methoden.
Erschienen 2017 im Transcript Verlag, Bielefeld. EUR 29,99.