„Ever since the days of Mrs. Gutenberg…“

Zum Buch „Natural Enemies of Books. A Messy History of Women in Printing and Typography“ der schwedischen Gruppe MMS –
Rezension von Gerda Breuer

Derzeit ist viel von der Revision der Disziplin Designgeschichte die Rede, davon, den Kanon vom „guten“ Design und von den traditionellen Erzählungen in Frage zu stellen. Die am häufigsten zitierte diskursive Referenz im Grafikdesign, die die vermeintlichen Gewissheiten kritisch hinterfragt und Gegenentwürfe formuliert, ist Martha Scotfords „Toward an Expanded View of Women in Graphic Design: Messy history vs neat history“ von 1994. „Messy“ ist inzwischen zum Zauberwort einer jüngeren Generation von schreibenden Grafikdesigner*innen geworden und taucht in jeder Publikation auf, die sich kritisch mit der Historiographie von Grafikdesign auseinandersetzt.

Ausgangspunkt von Scotfords Untersuchung war eine Statistik von Philip B. Meggs mehrfach aufgelegten Standardwerk „History of Graphic Design“ (1983), das so bekannt ist, dass es in den letzten Editionen schon nur noch unter dem Titel „Meggs’ History of Graphic Design“ firmiert. Seinem Buch wurde eine äußerst geringe Erwähnung von Grafikdesignerinnen in der Geschichte nachgewiesen. Das Defizit an Frauen in der Designgeschichte ist aber eine der wichtigsten Kritikpunkte der Ungleichheitskategorien von „class, race and gender“, die seit geraumer Zeit den kritischen Rahmen für Untersuchungen abstecken. Scotford hatte den Mangel bereits drei Jahre zuvor in ihrem Beitrag “Is there a Canon of Graphic Design History?” in Zusammenhang mit der Unterrepräsentanz von Frauen gebracht. Mit beiden Texten setzen sich seither etliche Fachvertreter*innen auseinander und untersuchen ihre Aussagen auf die jeweilige Gegenwart hin. In der Tat brauchen Leser*innen auch heute nicht weit in die Geschichte zurück zu gehen, um diese Ignoranz vorzufinden: Jens Müller/Julius Wiedemanns neuestes Monumentalwerk „Geschichte des Graphikdesigns“, das der Verlag Taschen in zwei Bänden herausgibt, steigert sich unter den jeweils 2500 Beispielen von Grafikdesign pro Band in der Absenz von Frauen. Sie werden nur zu einem verschwindend geringen Teil erwähnt, und wenn überhaupt, dann nur mit den sattsam bekannten Beispielen. Eine Welle an Buchveröffentlichungen und Ausstellungen, z.B. in der Kunstbibliothek Berlin und demnächst im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, im Vitra Design Museum und dem Ulmer Museum u.v.a.m., die ein anderes Bild vermitteln, kann nicht wirklich übersehen werden.

Eine bemerkenswerte Publikation (mit begleitender Ausstellung in Stockholm) beleuchtet den Zusammenhang auf besondere Weise:

Am 18. August 2022 wurde in der Galerie A-Z in Berlin das Buch der drei schwedischen Grafikdesignerinnen Maryam Fanni, Matilda Flodmark and Sara Kaaman (MMS) mit dem Titel „Natural Enemies of Books: A messy History of Women in Printing and Typography“ vorgestellt. Das Buch war 2020 im Occasional Verlag, London, publiziert worden und ist seither sehr nachgefragt in einschlägigen Kreisen von jungen Frauen im Buchgewerbe. Sogar eine Ausgabe in Portugiesisch ist für den lateinamerikanischen Raum in Vorbereitung.

Bezeichnenderweise war es nun Teil der ersten Veranstaltung der „Counter Sessions“, einem neuen Format von Veranstaltungen, an denen gegenkulturelle Ansätze im Grafikdesign diskutiert werden sollen. Unter dem Titel „Ever since the days of Mrs. Gutenberg…“ verstand sich die Veranstaltung als lockerer Austausch „an der Bar“, geht doch der von Anja Lutz and Jens Bauermeister geführte Ort auf die legendäre Flipper Bar zurück, die inzwischen eine Geschichte von 22 Jahren hat. Sie soll nicht zuletzt an die „wilden Jahre“ der Wiedervereinigung in Berlin erinnern.

„Natural Enemies of Books“ greift eine Publikation auf, die heute geradezu ikonischen Charakter unter denjenigen Frauen hat, die mit dem Buchgewerbe zu tun hatten – von Grafikdesignerinnen über Schriftstellerinnen, Druckerinnen und Verlegerinnen und all den „unseen hands“, die mit dem Gewerbe verbunden sind: Bookmaking on the Distaff Side. Es wurde 1937 von einer kollaborativen Gruppe von amerikanischen Verlegerinnen mit dem Namen „The Distaff Side“ herausgegeben. Angeführt wurde die Gruppe von Edna Beilenson, der Verlegerin von Pauper Press in New York. „The Distaff Side“ war eine lose Verbindung von Frauen, die in unterschiedlichen Positionen mit dem Buchgewerbe zu tun hatten und die dagegen protestierten, dass Frauen in den einschlägigen Interessenvertretungen nicht zugelassen waren. Das Buch ist nur in einer Auflage von 100 Exemplaren erschienen und deshalb heute sehr selten in Sammlungen oder auf dem antiquarischen Markt zu finden.

„Bookmaking on the Distaff Side“ ist ausschließlich von Frauen gestaltet und gedruckt worden. In dem Buch vereinen sich Beiträge von Schriftstellerinnen, Grafikdesignerinnen, Buchbinderinnen, Typografinnen, Illustratorinnen und Verlegerinnen aus verschiedenen kleinen Druckereien oder Einzelpersönlichkeiten. Es versammelt Essays, Satiren, persönliche Erfahrungsberichte, Gedichte, programmatische Texte und typografische Experimente. Zugleich ist es zusammengesetzt aus unterschiedlichen Papierarten, Schriftarten und individuellen Layouts. Da die Verlage in der Tradition des „Private Press Movements“ standen, sind die Beiträge äußerst sorgsam, manchmal per Hand, gefertigt. Der Name der Grafikdesignerinnen und anderer Mitarbeiter*innen ist jeweils erwähnt. Es wurde zusammengestellt, gebunden und veröffentlicht von Jumbo Press.

Bekannt wurde Anne Lyon Haights Beitrag „Are Women the Natural Enemies of Books?“. Haight (1891-1977) war eine amerikanische Autorin und Sammlerin von seltenen Büchern. Mit dem Titel bezieht sie sich auf William Blakes „The Enemies of Books“ von 1880, der alle Feinde von Büchern, vom Feuer über Ignoranz, Bücherwürmern, Buchbindern, Sammlern bis hin zu Kindern auflistet. Frauen sind zwar in der Aufzählung nicht erwähnt, aber, wie die Autorin meinte, gab es genug Beispiele in der Geschichte, die Frauen als Feinde von Büchern beschrieben.

MMS, deren Schwerpunkt neben dem Feminismus die Arbeiterbewegung in Schweden ist, untersucht nun, ob sich die Arbeits- und Lebensbedingungen im Buchgewerbe seit 1937 geändert haben. Das kleine Buch will, wie sein Vorbild, ein demokratisches Versprechen einlösen, indem es viele diverse Stimmen zu Gehör bringt, die mit dem Buchgewerbe oder Alternativen zu tun haben. Da ist Jess Baines von See Red Woman Workshop, der als Frauenkollektiv geführten linken Gruppe, die in den 1970er und 1980er Jahren in London im Rahmen der Stadtteilarbeit und der zweiten Frauenbewegung Protestplakate im Siebdruckverfahren druckte. Da sind Kathleen Walkup und Ida Börjel, die über einige Individuen, die in die einstige Gemeinschaftsarbeit involviert waren, schreiben, wobei auch Berühmtheiten wie Beatrice Warde und Gertrud Stein erwähnt werden. Die Ökonomin Ulla Pikanter beschäftigt sich mit den historischen Arbeitsbedingungen, unter denen Frauen im Buchgewerbe zwischen 1800 und 1900 existierten. Hinzu kommen Stimmen aus verschiedenen Disziplinen und Institutionen: Schriftsteller*innen, Journalist*innen, Ökonom*innen, auch Vertreterinnen der Gewerkschaft, die einen Beitrag beisteuern und die heutige Situation von Frauen im Buchgewerbe beleuchten. Denn über allem steht die Frage, die sich die Herausgeber*innen ganz zu Anfang gestellt haben: Wie würde ein vergleichbares Buch heute aussehen? Hat sich die Situation grundlegend geändert? Eins ist zumindest sicher: Von den Stereotypen der Designhistoriographie im Grafikdesign, die sich vorwiegend auf einzelne Entwerfer*innen, das Buchobjekt und auf das „gute“ Design konzentrieren, rückt der Band bewußt ab.

Text: Gerda Breuer
Bild: MMS (Maryam Fanni, Matilda Flodmark, Sara Kaaman) / mms-arkiv.se
Weitere Informationen: >>mms-arkiv.se