Wechselwirkungen an und nach der Hochschule für Gestaltung Ulm
Rezension von Bernhard E. Bürdek
Transportation Design – in und um Ulm herum.
Mit dieser Thematik assoziiert man nicht unbedingt die Arbeiten an der HfG Ulm, viel eher das Art Center College in Pasadena, das Royal College in London oder die Automobildesign-Abteilung an der FH Pforzheim. Allein das Citytaxi Autonova fam (Entwurf: Fritz B. Busch, Michael Conrad und Pio Manzoni, 1965) fällt so unmittelbar ein – dies war zu seiner Zeit ein revolutionärer Entwurf. Erst Jahrzehnte später wurde dieses grundlegende Konzept realisiert. Ulm war aber keine Automobil-Styling Schule sondern widmete sich sehr intensiv den Fragen des Transportation Designs, wie eine gerade erschienene Publikation von Hartmut Seeger anschaulich zeigt. Dass in den Anfangsjahren auf dem Ulmer Kuhberg die Studierenden Autos nur unter dem Tisch zeichnen durften, denn sonst wäre man relegiert worden (S. 29), gehört zu jenen wunderbaren Legenden, die die HfG Ulm immer begleitet haben.
Transportation-Design versus Styling: also Fahrzeug-Systeme, Komponenten, Einzelfahrzeuge für die Luft, das Land und das Wasser mit dem Schwerpunkt Exterior- und Interior-Design, das waren die Aufgaben für die Studierenden, aber auch Projekte in den Instituten der HfG, die teilweise bis zur Serienfertigung geführt haben, wie z.B. die Hamburger Hochbahn in den 1960er Jahren. Transportation-Design war kein expliziter Studienschwerpunkt, wurde aber in mannigfaltigen Projekten bearbeitet. PKW´s, Reisebusse, Speisewagen, landwirtschaftliche Maschinen, Baumaschinen, Lokomotiven u.a.m.
Seeger führt über 40 Akteure auf, die in diesen Bereichen geforscht und entworfen haben, z.B. Otl Aicher, Reinhart Butter, Horst Emundts, Hans Gugelot, Ingo Klöcker, Herbert Lindinger, Pio Manzù, Alexander Neumeister, Herbert Ohl, Ferdinand Alexander Porsche, Leonhard (Harry) Schmude, Rido Busse, Hans-Jürgen Lannoch u.v.a.m.
Dabei ging es immer um die methodischen und funktionalen Ausprägungen der Projekte, und eben nicht um die vordergründige waren-ästhetische Aufmachungen der Produkte. An der HfG galt die Maxime: „Keine Form ohne Funktion“ (S. 77), so gesehen spricht Seeger zu Recht von wissenschaftlichen Grundlagen, die in den Projekten entwickelt wurden und die auch den Wissenstand der Disziplin praxisbezogen verbessert und erhöht haben. Dieser anwendungs-orientierte Blick der Designwissenschaft ist heute weitgehend aus dem Fokus gerückt, denn heute ist er doch über weite Strecken in die Welt der Wolkenkuckucksheime entfleucht, das post-faktische Design ist angesagt.
An der HfG Ulm wurde immer versucht, die dort entstandenen Produkte auch sprachlich oder gar theoretisch zu vermitteln. So entstanden mannigfaltige Texte – gerade auch von den Entwurfsdozenten selbst – aus denen deutlich wird, dass Theorie und Praxis und auch umgekehrt in einer engen Beziehung stehen. Das Gleiche gilt auch für die in Ulm entwickelte, gelehrte und praktizierte Methodik. Auch hier wurde anhand der von Seeger beschriebenen Projekte deutlich, dass sich die damals entwickelte Methodik immer auf die Entwurfsprozesse bezogen hatte. Das Alleinstellungsmerkmal der HfG Ulm in den 1960er Jahren bestand sicherlich darin, an Gestaltungsproblemen des Bauens, der Produktgestaltung und der Visuellen Kommunikation methodisch/wissenschaftliche zu arbeiten. Dies macht die Publikation von Hartmut Seeger recht anschaulich und deutlich, und damit stellt sie einen bedeutsamen Beitrag zur deutschen Designgeschichte im 20. Jahrhundert dar. Und sie räumt auch mit dümmlichen Vorurteilen auf, in Ulm seien doch nur graue Kästen entworfen worden.
Die HfG hatte weit reichende und bisher so noch nie dargestellte Auswirkungen in der Praxis. Ob Züge (A. Neumeister), Straßenbahnen (H. Lindinger), Automobile, Schiffe oder Flugzeuge: es waren in den 1970-1990er Jahren oftmals Ulmer, die daran maßgeblich mitgearbeitet haben. Aber auch in Forschung und Lehre waren deren Spuren deutlich, die sich in Europa, Indien, Japan und den USA nachverfolgen lassen.
Seeger schildert auch, welche ästhetischen Auffassungen an der HfG Ulm virulent waren und zu dem durchaus asketischen Umgang mit Formen und Farben beigetragen haben. Max Bense (TH Stuttgart) lehrte auch auf dem Kuhberg „Informationsästhetik“ und prägte eine „kognitive Landkarte“, die durch Syntaktik, Semantik und Pragmatik geprägt wurde. Dabei dominierte der im Sinne von George David Birkhoff geprägte Begriff der Gestaltreinheit vor der Gestalthöhe (S. 89). Benses dominierender Einfluss wurde bereits in der Diplomarbeit von Klaus Krippendorff (1961) sichtbar, die die Grundlage für seine erst viel später erschienene „Semantische Wende“ (engl. 2006, dt. 2013) darstellte. Die „Ulmer Design-Semantik“ schildert Seeger an den weitgehend noch heue ungelösten Fragen, welche Bedeutungen / Nachrichten / Handlungsanweisungen (heute „affordance“ genannt) von den Produktgestalten ausgehen. Dass nur dadurch der Wissensstand der Fachdisziplin Design erhöht wird (S. 261) steht dabei außer Frage. Insbesondere Klaus Krippendorff hatte maßgeblichen Einfluss auf die weltweite Verbreitung der „Product Semantics“, an der auf der praktischen Seite auch Reinhart Butter maßgeblich beteiligt war. Hans-Jürgen Lannoch hat daran ebenso weitergearbeitet wie in den 1980er und 1990er Jahren die HfG Offenbach – in der Entwicklung produktsprachlicher Kategorien. An der TU Stuttgart entwickelte Hartmut Seeger ein Semantik-Modell, das er in die Konstruktionsforschung integrierte.
Quasi als Ausblick macht Seeger noch einmal deutlich, dass es jenseits eines verengten und doktrinären Funktionalismusbegriff, der der HfG Ulm gerne angedichtet wird, insbesondere der „Pragmatic Turn“ war, der dort bereits in den 1960er Jahren skizziert wurde. Produkte sollten ihren Benutzern erklären, wie sie zu bedienen sind („affordance“) (S. 281). Der heute so weit verbreitete Begriff des „Interface Design“ kann somit sicherlich auch auf die Überlegungen der HfG Ulm zurück verfolgt werden, auch wenn er damals noch nicht verwendet wurde (S.293).
Bei aller Akribie, mit der dieses Buch sicherlich über Jahre hinweg erarbeitet wurde, bleibt ein Wermutstropfen: für dessen Layout hätte der Autor schon einen Ehemaligen der visuellen Kommunikanten hinzuziehen sollen, denn so, wie es geworden ist, ist es doch reichlich un-ulmerisch: dies hat solch ein bedeutsames Buch nicht verdient.
Hartmut Seeger
Transportation-Design und Designwissenschaften
Wechselwirkungen an und nach der Hochschule für Gestaltung Ulm
39,– Euro | ISBN 978-3-946319-12-2, 330 Seiten, 21,0 x 29,7 cm, Broschur, April 2017