Reuension von Klaus Klemp zu "Die Fläche und die Wiener Moderne" und "Gebrauchsgrafik aus Österreich" von Bernhard Denscher

Publikationen von Bernhard Denscher zur Grafik aus Österreich

Rezension von Klaus Klemp zu „Die Fläche und die Wiener Moderne“ und „Gebrauchsgrafik aus Österreich. 51 Lebensläufe“

Dass Wien ein europäischer Kristallisationspunkt der Gestaltungsmoderne um 1900 war, ist allgemein bekannt. Das betraf die Architektur und die Interieurs eines Otto Wagner, Josef Hoffmann, Josef Maria Olbrich oder Adolf Loos, aber eben auch alle Bereiche grafischer Gestaltung. In beidem wurde der florale europäische Jugendstil dabei in manchen Bereichen ziemlich ‚eckig‘ und das im doppelten Wortsinn. Josef Hoffmann kultivierte das Rechteckige bei Architektur (Palais Stoclet, Sanatorium Purkersdorf) und Möbel (Sessel Cabinet, Kubus, Purkersdorf), aber auch bei seinen Plakaten für die Wiener Werkstätte. Nicht zu vergessen ist Adolf Loos mit seinen paradigmatischen Bauten der Villa Steiner und dem Haus am Michaelerplatz. Das abstrahierte oder ungegenständlich Geometrische aus Wien wurde neben dem russischen Konstruktivismus zum Startpunkt der nach dem Ersten Weltkrieg dann ausbuchstabierten formreduzierten und funktionsorientierten Moderne in Deutschland, den Niederlanden oder der Schweiz. Allerdings wurde es da atmosphärisch deutlich kälter. Denn das zweite „Eckige“ in Wien verbarg sich hinter dem imperialen Glanz, der auch dem Jugendstil nicht fehlte. Das Psychologische, Unterschwellige, Emotionale, Satirische und Lebensreformerische des Neuen Menschen ist in der Stadt Sigmund Freuds, in Literatur, Kunst, Philosophie, Rechtswissenschaften, Ökonomie und sozialen Ideen dasjenige, das an Feudalismus und Historismus kratzte. Der Wiener Jugendstil war da alles andere als harmlos.

Bernhard Denscher hat in 2021 und 2022 zwei kompakte Bände vorgelegt, die sich der Gebrauchsgrafik in Wien um 1900 widmen. Die Fläche behandelt eine weniger bekannte Zeitschrift, die aber neben der Kunstzeitschrift Ver Sacrum zu den bedeutenden Medien der Wiener Avantgarde der Zeit zu rechnen ist. Der Titel sagt dabei schon, worum es geht, nämlich um die Abkehr vom veristischen Historismus hin zu einer Flächen- und Liniengestaltung, die durch die Rezeption der japanischen Ukio-e zunächst von Paris aus die europäische Angewandte Kunst revolutionieren sollte.

Der zweite, hier zu besprechende Band gibt anhand von 51 Künstlerbiografien einen Überblick zur österreichischen Gebrauchsgrafik der zwischen 1862 bis 1898 geborenen Gestalter. Gestalterinnen müsste es aber vor allem auch heißen, denn unter den Genannten finden sich immerhin zwölf Frauen. Für die noch männerdominierte Kulturszene der Zeit ist das eine beachtliche Anzahl, die der Autor besonders gewissenhaft recherchiert hat.

Doch zunächst zur Fläche und zu Bernhard Denscher, der zu den ausgewiesenen Kennern der Materie zählt. Nach dem Studium war er seit 1979, mit 25 Jahren, zunächst Referent in der Plakatsammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek (heute Wienbibliothek), 1989 dort Stellvertretender Direktor der Bibliothek und seit 1991 lange Jahre Leiter der Kulturabteilung der Stadt Wien. Dabei hat Denscher seine Leidenschaft für die österreichische Gebrauchsgrafik und insbesondere für das Plakat während seiner gesamten beruflichen Tätigkeit im Auge behalten und dazu zahlreiche Publikationen vorgelegt. Seit 2010 betreibt er aus eigener Initiative und mit eigenen Mitteln das Online-Magazin www.austrianposters.at, für das er zahlreiche kompetente Autorinnen und Autoren gewinnen konnte. Bemerkenswerterweise hat es nicht nur einen Teil in Englisch, sondern auch in Russisch. Hier finden sich in Bild und Text zahlreiche Informationen, die in diesem Umfang in kaum einer Monografie zum Thema auftauchen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass dortige Beiträge einer Art Peer-Review durch die interessierte Öffentlichkeit unterzogen und somit diskutiert und vervollständigt werden. Nicht zuletzt finden sich hier zahlreiche Interviews, Rezensionen und Ausstellungsbesprechungen. Es ist ein Stück privaten Forschungsbeitrags, der gleichzeitig die Fachöffentlichkeit und ein breiteres Publikum anspricht.

Die Zeitschrift Die Fläche, die in zwei Publikationszyklen von 1902 – 1904 und von 1910 – 1911 erschien, ist eine immer noch wenig bekannte gedruckte Quelle. Dabei gelingt dem Autor erstmals eine genaue Datierung der insgesamt 14 Hefte. Herausgegeben wurde die Zeitschrift zunächst vom Direktor der Wiener Kunstgewerbeschule Felician von Myrbach und den Professoren Josef Hoffmann, Koloman Moser und Alfred Roller, die Fläche II von Bertold Löffler. Publiziert wurden zunächst Arbeiten der Studentinnen und Studenten der Schule, in einigen Heften aber auch von renommierten Mitgliedern der Secession wie Gustav Klimt, Koloman Moser oder Adolf Boehm. Interessant sind die ausgedehnten Netzwerke zwischen den vielen Beteiligten, den Entwerfern und Entwerferinnen, Redakteuren, Herausgebern, Verlegern, Sympathisanten und Kritikern, die hier deutlich und mit vielen Personennachweisen benannt werden. Im ersten Heft stehen Arbeiten von neun Frauen denen von 13 Männern gegenüber. Weniger als Zeitschrift als viel mehr als Musterbuch und Vorlagenwerk zur Popularisierung der Wiener Moderne werden die zumeist ganzseitigen Abbildungen dabei wohl gewesen sein, wie der Autor vermutet. Die ersten Hefte erschienen dabei schon vor der Gründung der Wiener Werkstätte.

Dennoch waren die medialen Reaktionen verhalten. Der neue grafische Stil war 1902 / 03 eben noch Avantgarde und fand nur wenige Auftraggeber. Immerhin stellte aber die Tageszeitung Die Zeit in ihrem von Otto Wagner entworfenen Depeschensaal mehrfach Arbeiten aus den Heften aus, „um die neuen Ideen … weiteren Interessentenkreisen, vor allem der kunstgewerblichen Industrie und dem modernen Ankündigungs- und Placatwesen, zugänglich zu machen.“ (Die Zeit, 25.4.1903)

Neben dem Text auf Deutsch und Englisch bieten die durchgängig farbigen Abbildungen im Band zahlreiche Entdeckungen auf gerade 100 Seiten im Oktavformat.

Im Format kaum größer, aber doppelt so umfangreich ist Denschers Publikation über 51 Lebensläufe österreichischer Gebrauchsgrafiker und -grafikerinnen von der vorletzten Jahrhundertwende bis in die 1950er Jahre. Auch dies ist ein kompaktes Kompendium mit einigen bekannten und zahlreichen wenig bekannten Namen. Zu den bekannten musste da nicht viel recherchiert werden, um so mehr jedoch zu den mehr oder weniger unbekannten. Hier gibt es nun zahlreiche bislang wenig erforschte Biografien, die fundiert dargestellt und belegt sind. Darin liegt vor allem das Verdienst dieser Publikation, denn es zeigt die Breite der Gestalterinnen und Gestalter im Wien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in gelungenen kurzen Einzeldarstellungen und chronologisch nach dem Geburtsjahr sortiert. Dennoch, so der Autor, ist auch diese Zusammenstellung kein ultimativer Kanon und keine Vollständigkeit, die nicht zuletzt in manchen Fällen auch durch das Urheberrecht verhindert wurde.

Vor allem die vorgestellten Gestalterinnen überraschen. Etwa die 1876 geborene Stephanie Glax, selbstbewusste Sportlerin wie auch Zigarettenraucherin. Nach Studium in Wien, München und Paris, war sie sowohl in der freien als auch angewandten Kunst tätig. Im Band findet sich ein hinreißendes Plakat zum damaligen österreichischen Rivera-Badeort Abbazia von 1912, das die Jugendstilkurvaturen gegen geometrisch gezackte Elemente austauscht. Auch Nelly Marmorek stand lange im Schatten ihres erfolgreichen Ehemanns, des Architekten Oskar Mamorek, hat aber ein bemerkenswertes eigenes grafisches Werk geschaffen. Die schablonierten Drucke von Hilde Exner oder Emma Schlangenhausen zeigen das Experimentieren mit neuen Techniken und eine fortgeschrittene Abstraktion. Else Czulik brachte eine selbstbewusst weibliche Sichtweise in ihre Plakate ein und betrieb von 1945 bis 1950 mit Robert Kloss ein prosperierendes Werbeatelier. Nach dem Tod ihres Atelierpartners arbeitete sie als Buchillustratorin und in der Wirtschaftswerbung. Engagiert für die österreichische Arbeiterbewegung war etwa Marianne Saxl-Deutsch, die wie andere jüdische Kolleginnen und Kollegen von den Nazis ermordet wurde.

Die Viten, ob männlich oder weiblich, zeigen den großen Einfluss der Wiener Secession und ihrer Mitglieder seit 1897, der Wiener Kunstgewerbeschule seit dem Direktorat von Felician von Myrbach (1899 – 1909) mit zahlreichen Berufungen aus der Secession und ihrem Umfeld wie Koloman Moser, Josef Hoffmann, Alfred Roller, Josef Frank oder Oskar Strnad. Bezeichnend dabei auch die Transdisziplinarität zwischen Kunst, Architektur, Produktgestaltung und Gebrauchsgrafik, was sich kurz darauf auch in der Wiener Werkstätte von Hoffmann und Moser fortsetzen sollte.

Die im Buch gezeigten Arbeiten verweisen schließlich auch auf das aufkommende Bedürfnis nach Visualisierung von Kommunikation in der Populärkultur der Zeit. Dazu gehören neben der Königsdisziplin Plakat auch Buchgestaltungen, Vignetten, Illustrationen oder Textilentwürfe. Nicht zuletzt wird dabei der Einfluss auf das US amerikanische Grafik-Design deutlich.

Der Band schließt, wie es sich gehört, mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis zum Thema ab.

Bernhard Denscher sind zwei erfreuliche, ebenso kompakte wie auch faktenreiche Darstellungen zur österreichischen Gebrauchsgrafik gelungen, welche die bestehende Literatur sinnvoll ergänzen und verlässliche neue Einblicke ins Thema liefern.

Text: Klaus Klemp

Bernhard Denscher: Gebrauchsgrafik aus Österreich. 51 Lebensläufe, Wolkersdorf AT (Aesculus Verlag), 2022. (€ 29,00)
Bernhard Denscher: Die Fläche und die Wiener Moderne. Wolkersdorf AT (Aesculus Verlag), 2021. (€ 19,00)