Rezension von Bernhard E. Bürdek
Diese Arbeit wurde 2006 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich als Dissertation angenommen. Mit 520 (!) Druckseiten hat sie jetzt der Reimer Verlag veröffentlicht. Das Überraschende gleich vorweg: die bisher gängige Meinung, das Design habe sich ausgangs des 19. Jahrhunderts in England herausgebildet wird von der Autorin widerlegt. Die eigentlichen Anfänge sind bereits im 18. Jahrhundert zu finden, und zwar unter einem – heute würde man sagen globalisierenden – Blickwinkel. Ganz im Sinne von Peter Sloterdijk der einmal feststellte, nachdem Europa jahrhundertlang die Welt globalisiert hat, werden wir seit Mitte des 20. Jahrhunderts selbst globalisiert. Gemeint sind damit die Einflüsse außereuropäischer Kulturen auf die Artefakten Welt Europas, und ganz speziell wie diese die Produktwelten beeinflusst haben und weiterhin werden, beispielsweise durch asiatische Hersteller.
Regula Inselins Blick auf die Gegenstände ist zunächst einmal ethnologisch geprägt, eine Zugangsweise, die derzeit eine hohe Aktualität besitzt, wie sie beispielsweise auch von Hans Peter Hahn in seiner „Materielle Kultur“ (2005) dargestellt wurde. Und sie betrachtet die Überschneidungen zwischen Kunstobjekten und Gebrauchsgegenständen, die allesamt unsere westliche Objektkultur geprägt haben. Dieser Zugang ist in der Forschungs- und Rezeptionsgeschichte wirklich innovativ. Sie selbst schreibt, dass ihre Arbeit einer Ausgrabung gleicht (S. 11). Die Verfasserin konzentriert sich in ihrer Abhandlung auf einen „blinden Fleck“, der sich vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts erstreckt, wo die ersten Weltausstellungen inszeniert wurden und damit begonnen wurde, ethnographische Museen zu errichten.
Außereuropäische Exponate wurden dort präsentiert, um zu zeigen, welche ästhetischen Qualitäten die Objekte dort haben und zugleich um den hiesigen Herstellern Anregungen zu, wie ihre Produkte zu gestalten seien. Interessant ist beispielsweise, dass 1872 Christopher Dresser vorschlug, in London einen Raum mit Negativbeispielen einzurichten. Das Publikum und die Auszubildenden des Victoria and Albert Museums wurden aufgefordert, das ansonsten vorbildliche Anschauungsmaterial mit den Exponaten in einem Horrorkabinett zu vergleichen. Dresser zufolge waren unter den Artefakten aus Indien, Persien, China, Japan, aus dem alten Ägypten oder dem alten Griechenland (von den Kykladen etwa), nur selten Beispiele schlechten Geschmacks anzutreffen (S.428). Es wäre doch durchaus reizvoll, eine solches „Horrorkabinett“ wieder einmal zu installieren, man würde schnell fündig: beim DMY 2011 (das Internationales Design Festival Berlin), bei den Möbelmessen in Köln oder Mailand – man bräuchte sicherlich gar nicht so lange suchen. Und anregend wäre es doch durchaus.
Aber zurück zu Regula Iselin. Das Panorama der in dieser Dissertation untersuchten Quellen ist schlichtweg beeindruckend: die Recherchearbeiten erstreckten sich laut Verfasserin auf mehr als 10 Jahre. Aber es hat sich wahrlich gelohnt, denn es gelingt der Autorin, all ihre Erkenntnisse daraus in einen flüssigen Lesetext zu verwandeln, der von Anfang bis Ende spannend bleibt. Das Gesamtwerk kann hier in der angemessenen Kürze gar nicht gewürdigt werden, ein paar „Fundstücke“ seien aber explizit erwähnt:
- bisher wenig erforscht ist, dass die ästhetische Qualität (nicht die künstlerische!) der Produkte als ein ökonomischer Faktor wahrgenommen wurde und zunehmend wieder wird (S.187). Die anfangs des 19. Jahrhunderts vorgenommen Maßnahmen (Ausstellungen, Museen, Forschungs- und Bildungsinstitutionen) dienten wahrlich nicht nur der Geschmackserziehung (wie es der Werkbund im 20. Jahrhundert betrieben hat), sondern insbesondere zur Ankurbelung von Wirtschaft.
- das moderne Design hat sich – wie eingangs erwähnt – Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet, und zwar als Gegenbewegung zum Historismus, dessen Inkubationszeit damals begann (S. 189). Neben der beginnenden Industrialisierung sowie der Marktwirtschaft war es ein zaghaft einsetzender Stil-Pluralismus, der zu neuen ästhetischen Erscheinungsweisen von Produkten führte. Der Beginn ethnologischer Forschungen (Mitte des 19. Jahrhunderts) führte dazu, dass die Industrie dadurch wertvolle Anregungen für ihre eigenen Produktentwicklungen erhielt (S. 313)
- „Le beau dans l´utile“ wurde um 1860 zum Motto französischer Produktionsformen, was auch zu einem wichtigen Moment von Design wurde (S. 330). Dinge des Gebrauchs wurden zu einem bedeutsamen Marktsegment, das die Industrie aufgriff und auf Weltausstellungen präsentierte (beispielsweise 1855 in Paris, 1862 in London): „Die qualitativen Aspekte der Produktgestaltung wurden in der Auseinandersetzung mit der Kategorie des Geschmacks angesprochen“S.331). Andreas Dorschels Definition (2003), die er unter Rekurs auf Vitruv vorgetragen hat: „Gestaltung bedeutet die Ästhetik des Brauchbaren“ kommt dem sehr nahe. Beide Formulierungen beschreiben dadurch das „Spezielle“ oder auch „Disziplinäre“ von Design.
Dies sind nur ein paar Belege, für den Erkenntnisreichtum dieses Buches. Die Designgeschichte erfährt dadurch eine essentielle Bereicherung, dies ist das Verdienst von Regula Iselins Forschungen.
Und dazu noch ein Hinweis: die derzeit sich entwickelnde Designforschung findet in diesem Werk ein anschauliches Beispiel, was denn „Forschung im Design“ überhaupt bedeuten kann. Es geht um die Gegenstände, deren kulturelle Bestimmtheiten, welche Einflüsse dadurch wirksam wurden und wie diese wahrgenommen werden. Wenn man Wissen über Design erforschen und angemessen darstellen will (was ja wohl Sache der Designforschung sein sollte), dann ist dieses Werk ein wahrlich hervorragendes Beispiel dafür.
Gelegentlich wird ja suggeriert, man wolle Wissen erzeugen, wie z.B. in Claudia Mareis in ihrer Dissertation »Design als Wissenskultur. Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960« ( 2011), aber dort werden ja nur die Methoden, mit denen man (vielleicht) zu neuem Wissen kommt. Regula Iselin entfaltet mit ihrem ethnologischen Ansatz indes ein breites Spektrum an Wissen über Design und seine Gegenstände, so dass man gerne sagen möchte: so hat Designforschung auszusehen. Iselin hat die Messlatte mit dieser Dissertation recht hoch gelegt, aber das sollte doch für die jungen DesignforscherInnen eine Herausforderung sein – und wahrlich nicht abschrecken, wie es das Buch so auf den ersten Eindruck vielleicht vermittelt. Die Lektüre belohnt die Leser allemal.