GfDg Rezension von Gerda Breuer: Baseline Shift und The People’s Graphic Design Archive von Briar Levit

Rezension von Gerda Breuer zu „Baseline Shift“

Baseline Shift und The People’s Graphic Design Archive von Briar Levit

Derzeit ist viel von der Revision des Kanons in der Designhistoriografie die Rede. In Metaphern von Unordnung und Nicht-Linearität, von Parität und Diversität sollen Theorie und Praxis von Design überprüft werden. In fast allen Fällen gehört dazu die Kritik, dass Frauen im Design kaum beachtet wurden. Allein durch ihre Präsenz sollen sie die Erzählungen nun neu aufstellen. Dazu zählen aber auch all die Gruppen, die bislang an den Rand der Geschichtsschreibung gedrängt wurden: die BIPoCs, die People of Color, die Indigenen, die Vertreter*innen der Black community. Ihr Design erschien nicht erwähnenswert oder wurde nicht als „gutes Design“ anerkannt. Infolgedessen wird auch eine viel größere Breite an designerischen Vorlagen in Entwürfe mit einbezogen.

Eine Protagonistin einer solch neuen Entwurfshaltung ist die US-amerikanische Grafikdesignerin Gail Andersen. Selbst aus Jamaica stammend, aber in New York aufgewachsen, ist sie nach einer Ausbildung an renommierten Designschulen in den USA zu einer der bekanntesten Grafikdesignerinnen avanciert. Das Bildrepertoire ihres unangepassten, expressiv-eklektischen Stils verschiedenster Typographien historischer und aktueller Quellen schöpft sie nicht zuletzt aus populärem Material. Mit vielen Auszeichnungen geehrt wird die women of color in der Kunstkritik als „Designlegende“ bezeichnet.

Die USA schenken dem Anspruch, den Designkanon zu erweitern, ohnehin viel Aufmerksamkeit. Inzwischen sind zwar die neuen Perspektiven beachtenswerte Kriterien im deutschen Museumsalltag und auf dem Büchermarkt geworden. Auch einschlägige Institutionen des Faches öffnen sich in Deutschland der Forderung nach Diversität. Dennoch bleiben die Diskussionen über „gutes“ und „schlechtes“ Design und über die Beachtung vormals an den Rand gedrängte und abgewertete sozialer Gruppen immer noch eher ein theoretisches Diskursfeld.

Eine neue Buchveröffentlichung von Briar Levit nimmt davon wohltuend Abstand. In ihrer Publikation Baseline Shift, Untold Stories of Women in Graphic Design History, herausgegeben bei Princeton Architectural Press, stellen sie und die Autor*innen (die meisten sind selbst Grafikdesigner*innen) konkrete Fallbeispiele vor und nahezu ausschließlich Designer*innen, die den meisten heute unbekannt sind und dennoch in ihrer Zeit eine große Wirkung hatten. Unter ihnen sind Women of Color, asiatische Frauenkollektive, indigene Designer*innen aus allen Kontinenten. Nicht zuletzt aufgrund seiner starken Resonanz in den digitalen Medien war das Buch lange erwartet auf dem deutschen Büchermarkt und liegt nun seit Ende 2021 vor.

Levit ist von Hause aus Designerin und lehrt seit einiger Zeit als assoziierte Professorin Graphikdesign an der Portland State University in den USA. Bekannt ist sie durch Initiativen, die die konventionellen Strategien der Wissensproduktion verändern wollen. So stellt sie seit kurzer Zeit, zusammen mit Louise Sandhaus und Brockett Horne The People’s Graphic Design Archive zusammen. Es handelt sich um ein online crowd-sourced-Archiv, in dem alles, was zum Grafikdesign gehört, gesammelt wird: von Fotos, Briefen, Interviews, Werbung, Illustrationen, Links zu anderen Archiven bis zu websites u.v.a.m. Das Archiv basiert auf Material, das dessen Benutzer*innen selbst eingereicht haben. Dadurch soll die Perspektive auf Designgeschichte erweitert werden, ein großes Spektrum an Interessen einbezogen, der Status quo der Grafikdesign-Archive infrage gestellt und ein breiterer Zugang zu Wissen ermöglicht werden. Die Designerinnen hoffen, neue Wege des Sammelns von und Forschens über Designgeschichte anzuregen.

Louise Sandhaus, heute Professorin am California Institute of Arts in Valencia, Los Angeles County, und weiterhin als Grafikdesignerin mit eigener Agentur tätig, hatte mit ihrem Buch Earthquakes, Mudslides, Fires and Riots: California and Graphic Design 1936–1986 die Erfahrung gemacht, wie divers das Grafikdesign in dem multikulturellen Land war. Und dass es nicht nur von professionellen Grafikdesigner*innen ausging, sondern von vielen Lai*innen und vor allem verschiedenen sozialen und ethnischen Kulturen. Sie verfügte über eine Vielzahl an weiterem visuellen Quellenmaterial, welches sie nicht veröffentlichte und sie nun in The People’s Graphic Design Archive integrieren kann.

Auch in Briar Levit’s Buch Baseline Shift geht es grundsätzlich um disziplinäre Selbstkritik. Der ursprünglich aus der Umweltforschung stammende Begriff shifting baseline verweist auf eine veränderte Wahrnehmung von Tatsachen, eine Verschiebung, einen Wechsel der Perspektive oder auch eine verzerrte und eingeschränkte Wahrnehmung von Wandel. In ihrem Fall macht Levit darauf aufmerksam, dass Frauen in der Designgeschichte einen wesentlich größeren Beitrag geleistet haben als angenommen. Sehr viel Wert legen die Autorinnen der 15 Beiträge auf den historischen Kontext, in dem das jeweilige Grafikdesign entstanden ist.

Der „Urtext“, der in nahezu jeder Abhandlung erwähnt wird, ist Martha Scotfords Aufsatz Messy History vs Neat History. Toward an Expanded View of Women in Graphic Design, zuerst erschienen 1994. Scotford, heute Professorin emerita und vormals Professorin für Grafikdesign am College of Design der North Carolina State University, stellt darin nicht nur die Narrative der Designgeschichte, der „Neat History“ und ihre Idee von Linearität der Verlaufsform in Frage, sondern beschreibt auch die Gründe für die Disproportionalität der Geschlechter. Scotford ist es denn auch, die das Nachwort im vorliegenden Band schreibt (S. 160-164).

Der Bogen der Beispiele ist weit gespannt und von internationalen Autor*innen verfaßt. Er reicht vom 18. Jahrhundert bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Berichtet wird beispielsweise von einer Buchdesignerin der sogenannten Harlem Renaissance, einer Bewegung afroamerikanischer Schriftsteller*innen und Künstler*innen zwischen 1920 und 1930, die die Geschichte schwarzer US-Amerikaner*innen zu Ehren kommen lassen wollte. Dann geht es um das Heer der „unsichtbaren Hände“ von Frauen in den Monotype-Zeichenbüros. Weiterhin werden Verleger*innen der frühen amerikanischen Kolonialgeschichte beachtet sowie Plakatdesigner*innen des Federal Art Project in den USA. Letzteres war ein New Deal-Kulturprogramm zwischen 1935-43, das die Auswirkungen der Großen Depression in allen Bereichen der Kultur durch finanzielle Unterstützung auszugleichen suchte und in dem einige 10.000 Künstler*innen beschäftigt waren.

Bei der Auswahl der Beispiele geht es auch um die Infragestellung der „white history“, der von weißen Grafikdesigner*innen des Westens dominierten Geschichte. Und es geht darum, die Hauptaktionsfelder ihrer Tätigkeit herauszukristallisieren: Deshalb hat Briar das Buch in die Kapitel Publishing, Activism&Patriotism, Press&Production sowie Commercial eingeteilt. Wie sie in einem Interview mit Steven Heller betont, hat sie in ihrer Forschung den Eindruck gewonnen, dass der gesamte Bereich der Bücherproduktion das Feld war, in dem Frauen besonders willkommen waren. Ein anderes bedeutendes Arbeitsfeld von Frauen waren aktivistische und politische Initiativen. Zu letzterem zählt das Grafikdesign der Suffragetten-Bewegung und auch feministische Frauenkollektive wie die schwedische Gruppe MMS (Maryam Fanni, Matilda Flodmark and Sara Kaaman). Die Grafikdesignerinnen waren 2020 mit der Buchveröffentlichung Natural Enemies of Books – A Messy History of Women in Printing and Typography, verlegt bei Occasional Papers, hervorgetreten. Sie machten auf die Initiative der Gruppe The Distaff Side von 1937 aufmerksam, in der 20 Buchbinderinnen, Druckerinnen, Typographinnen, Illustratorinnen und Autorinnen (unter ihnen Gertrude Stein) mit historischen Essays, Satiren, Biographien, Manifesten und typographischen Experimenten die prekäre Situation von Frauen im Druckereigewerbe beschrieben.

Während in der Initiative „Hall of Fame“ des renommierten American Institute of Graphic Arts (AIGA) die Berühmtheiten des Grafikdesigns – über viele Dekaden nahezu ausschließlich Männer – geehrt wurden und bei der alternativen schwedischen „Hall of Femmes“ ausschließlich herausragende und schon bekannte Frauen Erwähnung finden, kapriziert sich Levit nicht auf die Berühmtheiten. Eine Ausnahme ist Bea Feitler, die preisgekrönte brasilianische Art Directorin der glamourösen amerikanischen Modezeitschrift Harper’s Bazaar, die aber hier mit ihren frühen Beispielen für Sir und die bekannte feministische Zeitschrift Ms. Erwähnung findet (S.52-62). Aus Deutschland stammt nur ein einziges Beispiel, nämlich die Werbegrafik der Bauhaus-Absolventin Söre Popitz (S. 128-138).

Die Publikation spiegelt die US-amerikanische Perspektive auf die internationale Designgeschichte wieder, in der spätestens seit den 1960er und 1970er Jahren die Geschichte der Frauen im Design ein großes Gewicht hat. Die jüngere Generation kann infolgedessen auf eine Kontinuität von renommierten Designhistorikerinnen aufbauen, die zu einer Revision der Designgeschichte aufgerufen haben: von Martha Scotford über Ellen Lupton, Louise Sandhaus, Sheila Levant de Bretteville und vielen anderen mehr. Starke Protestbewegungen in Zusammenhang mit Rassendiskriminierungen, die aus der amerikanischen Geschichte nicht mehr wegzudenken sind, wirken eindringlicher auf eine größere Offenheit gegenüber zeitgemäßem Wandel von Geschichtsschreibung als dies in Deutschland der Fall ist. Die größere Ausrichtung US-amerikanischer Forschung auf visual culture oder material culture erlauben von vornherein einen offeneren Zugang zu Wissensbereichen als es die konventionellen Narrative der Designgeschichte hierzulande erlauben. All diese Faktoren spielen in der lesenswerten Lektüre Baseline Shift mit und lohnen einen Blick auf den Perspektivenwechsel.

Text: Gerda Breuer
Bild: Briar Levit / briarlevit.com
Bestellmöglichkeit: >>bookshop.org