Rezension von Wolfgang Schepers
50 Jahre (1970 – 2020) ist es nun her, dass die Vorgängerinstitution Werkkunstschule in eine Hochschule für Gestaltung (HfG) in Offenbach – Kunsthochschule des Landes – umgewandelt wurde. Im Zuge dieser „Nobilitierung“ von ehemaligen Werkkunstschulen mit handwerklicher Orientierung in Fachhochschulen in ganz Deutschland um 1970 sollte auch der theoretische Anteil an Lehre und Forschung zunehmen. So auch in Offenbach, wo sich nicht ganz unbescheiden mit der Bezeichnung HfG durchaus Assoziationen an die legendäre Ulmer Hochschule für Gestaltung (1953 – 1968) aufdrängen. Vielleicht doch nicht ganz zu Unrecht, denn ehemalige „Ulmer“, seien es Studenten oder Dozenten, wurden später auch in Offenbach tätig.
Doch der Reihe nach:
Vor mir liegt ein schwarzes Buch mit eng bedruckten 482 Seiten mit 35 Artikeln von 28 Autoren – wobei einige mit mehreren Artikeln vertreten sind. Anlass für diese ehrgeizige Publikation ist der 50. Geburtstag der HfG Offenbach als Kunsthochschule des Landes. Thilo Schwer und Kai Völcker ist es gelungen, nicht nur alle Lehrenden des Offenbacher Fachbereichs Design, sondern darüber hinaus auch Designtheoretikerinnen und Theoretiker anderer Hochschulen mit Ihren Beiträgen in einem Band zu versammeln.
Selbstverständlich geht es um Design-T h e o r i e und offenbar soll dies bereits am Cover des Buches mit einem zunächst kryptisch anmutenden (designtheoretischen) Schaubild verdeutlicht werden.
Der „Offenbacher Ansatz“, so wird immer wieder in verschiedenen Beiträgen betont, widmet sich der „Mensch-Objekt-Beziehung, in der semantische und symbolische Dimensionen eine Rolle spielen“ (Vorwort des HfG Präsidenten S.14). Mit anderen Worten geht es um einen neu verstandenen Funktionalismus.
Will man die Fülle des zusammengetragenen Materials effektiv bewältigen, so empfiehlt sich unbedingt die nützliche Einführung der Herausgeber in die drei großen Themenbereiche „Archiv“, „Kontext“ und „Positionen“, die mit einem fast 30-seitigen Anhang mit den Biografien der Autoren enden. Die wichtigsten Protagonisten des „Offenbacher Ansatzes“ (und ihrer Vorläufer) – um hier nur einige zu nennen, werden hier bereits kurz vorgestellt: Max Bense, Klaus Krippendorf, Siegfried Maser, Jochen Gros, Richard Fischer, Bernhard E.Bürdek, Lore Kramer, Gerda Mikosch u.a.
Anschließend skizziert Dagmar Steffen zu Beginn des „ARCHIV“-Kapitels die „Anfänge, Etappen und Kontexte des Offenbacher Ansatzes“ (S. 27 ff). Auf annähernd 200 Seiten kommt dann v.a. Jochen Gros mehrfach zu Wort mit seinen Positionen aus der Zeit von 1971–1987 zu „sinn-lichen“ Anzeichen- und Symbolfunktionen der Produktsprache.
Der Rezensent erlaubt sich hier die Bemerkung, dass er gerade in der Zeit um 1970 (Stichwort: Studentenbewegung) politische und gesellschaftliche Bezüge dieser Theorien vermisst. Ebenso wird offenbar die Problematik der kapitalistischen Warenproduktion (vgl. W. F. Haug, Kritik der Warenästhetik 1971) nicht in die Reflektionen mit einbezogen. Das Bemühen der Offenbacher um einen erweiterten Funktionalismus-Begriff sollte aber auf jeden Fall vor dem Hintergrund von Polemiken (z.B. Werner Nehls 1969) gegen den bisherigen Funktionalismus oder auch den bereits in den 1960 Jahren entwickelten amerikanischen postmodernen Positionen gesehen werden.
Das Verdienst des vorliegenden Readers ist aber zweifellos, dass im Themenkomplex „ARCHIV“ bisher verstreut publizierte, grundlegende Texte des Offenbacher Ansatzes wieder einfach zugänglich gemacht werden. Der ca. 100 Seiten starke Abschnitt „KONTEXT“ wir durch einen nützlichen Beitrag von Petra Eisele eingeleitet, die die „Vorgeschichte“ des Offenbacher Ansatzes (S. 225 ff) beschreibt. Denn dadurch wird der Paradigmenwechsel in der Designtheorie historisch verortet. Nicht minder wichtig erscheint mir der Beitrag von Siegfried Gronert, der (als einziger) den Blick über den bundesdeutschen – eigentlich Offenbacher – Designdiskurs erweitert, indem er die Position des wichtigsten DDR-Theoretikers, Horst Oehlke skizziert. (S. 310 ff.) Der erweiterte Funktionalismus in der DDR wies durchaus Berührungspunkte mit dem Offenbacher Ansatz auf.
Auch Jochen Gros kommt in diesem Themenkomplex noch einmal zu Wort (S. 233 ff). Immerhin feierte in den Zeiten, als die Theorie der Offenbacher Produktsprache gleichzeitig das sogenannte Neue (nicht nur) Deutsche Design in den 1980er Jahren fröhliche Urstände. Für die harte Kritik an diesem neuen, vor allem medienwirksamen Design, das durchaus kunsthandwerkliche Züge bezüglich Fertigung und Unikatcharakter trug, in seinem damaligen Artikel in der „bauwelt 32“ (1986) entschuldigt er sich gewissermaßen. An seinen damals auch verbal in Düsseldorf (Ausstellung „Wohnen von Sinnen“ Kunstmuseum 1986) erhobenen Vorwurf, wieso man sich nicht der neuen Technogien bediene, wenn man schon auf individualisierte Produkte als Unikate oder allenfalls als Kleinserien ziele, erinnere ich mich noch gut. Gleichzeitig wurden zu dieser Zeit aber sehr wohl Entwürfe wie das Reifen-Sofa der von Gros selbst mit gegründeten Gruppe Des-In von den aufbegehrenden jungen Designern als Vorläufer der eigenen Ansätze rezipiert. Den Verweis auf das Neue Design halte ich auch deshalb grundsätzlich für wichtig, zeigt er doch, dass neben den theoretischen Ausarbeitungen der Offenbacher wesentlich praktischere und spontane Entwürfe ebenfalls eine – allerdings sehr radikale – Funktionalismuskritk Gestalt werden ließen.
Im mit POSITIONEN überschriebenen Themenkomplex geht es abschließend u.a. darum, wie der Offenbacher Ansatz weiterentwickelt werden muss und z.B. auf die neuen Technologien zu reagieren hat. Wohl am deutlichsten formuliert Martin Gessmann: „Die Offenbacher Produktsprache – um es im Kurzfazit zu sagen – ist so gesehen immer noch ein Ausläufer bundesrepublikanischer Vergangenheitsbewältigung …“ (S. 403). „Als Konsequenz aus solchen Überlegungen und Feststellungen gilt es festzuhalten, dass die Produktsprache heute einer Aktualisierung bedarf.“ (S. 405).
Erfreulich zu lesen ist auch das Gespräch der Herausgeber mit Georg-Christof Bertsch, werden doch hier kritische Positionen – oder nennen wir es lieber notwendige Erweiterungen – des Funktionalismus-Begriffs und des Offenbacher Ansatzes formuliert. Bertsch’s Forderung lautet aber nicht nur „Design muss als politisch hochaufgeladene Praxis gelehrt werden …“ (S. 412), sondern er verweist auch darauf, dass es kein universelles Design geben kann. Zuvor hatte bereits Claudia Mareis (Theorien des Designs 2014, S. 100) formuliert, der Offenbacher Ansatz der Produktsprache biete sehr wohl eine „solide Anleitung“, seine Kategorien und Qualitäten „gelten jedoch nicht, oder nur sehr bedingt, für andere Kulturräume oder historische Kontexte“. Man mag an dieser Stelle einwenden, dass die beiden ehemaligen „Ulmer“ Klaus Krippendorf und Gui Bonsiepe sowohl in Nord- als auch in Südamerika ähnliche Theorien wie den Offenbacher Ansatz vertraten, allerdings auch darüber hinausgingen.
Zweifelsohne liegt mit dem Offenbacher Jubiläumsband eine wertvolle Publikation vor, an der man bei den Diskursen um Designtheorien nicht mehr wird vorüber gehen können. Das Verdienst der Herausgeber besteht darin, nicht nur wichtige historische Texte wieder zugänglich gemacht, sondern auch Kontexte und Weiterentwicklungen der Produktsprache aufgezeigt zu haben. Nicht zu vergessen ist, dass dieses Buch auch als open access Publikation zur Verfügung steht.
Thilo Schwer / Kai Vöckler (Hg.) Der Offenbacher Ansatz. Zur Theorie der Produktsprache. Bielefeld, Transcript Verlag: 2021.